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ECCE HOMO
Hans Werner
Dannowski
Stadtsuperintendent, Hannover
Im 19. Kapitel des Johannes-Evangeliums ist die
Szene berichtet. Jesus wird auf Befehl des Pilatus gegeißelt, Folterung
würde man es heute nennen. Dann setzen ihm die Soldaten eine Krone aus
Dornen auf, legen ihm einen Purpurmantel um, vollführen eine Persiflage des
Königsrituals: Sei gegrüßt, König der Juden, und schlagen ihm dabei ins
Gesicht. Und dann wird Jesus der grölenden Menge vorgeführt, hat die
Dornenkrone auf und den Purpurmantel an, und Pilatus sagt: Ecce homo. Seht,
welch ein Mensch. Seht den Menschen, kann man auch übersetzen. Und die
Ausleger rätseln bis heute: Ist dieses Wort ein Ausdruck heimlicher
Hochachtung? Ist es ein Wort nochmaliger Verspottung und Verhöhnung? Ist
dieses rätselhafte Wort ein Ausdruck der Solidarität mit dem Leiden oder der
Distanz?
Diese Szene der Passionsgeschichte Jesu offenbart
die beiden Weisen des Menschen, dem Leiden des Anderen zu begegnen. Er kann
sich von dem Leiden distanzieren. Er kann es sich verbergen, kann es
ignorieren, durch Verhöhnung Distanzen schaffen oder es gar noch vertiefen.
Aber dann ist da auch noch die andere Weise der Begegnung: die Solidarität
mit dem Leidenden und mit dem Leiden, das Mittragen, die tiefe Achtung vor
dem Leid, durch das Menschen gehen müssen, und die Empathie. Ein schwerer
Weg ist das, der Dimensionen aufruft und Kräfte anspricht, die nicht einfach
zuhanden und zugegen sind.
Peter Marggraf gestaltet Leidende. "Ecce homo",
nennt er die Ausstellung der Figuren, der Halbfiguren und der Köpfe aus Ton,
die er für die Kreuzkirche zusammengestellt hat. Eine Ausstellung in einer
Kirche mit diesem Titel weckt natürlich die Erinnerung an die
Passionsgeschichte Christi. Auf die ich am Anfang verwies. Die Interaktion
mit dem Cranach-Passionsaltar in der Kreuzkirche zumal legt solche
Dimensionen bloß. Aber Peter Marggraf will das "Ecce homo" nicht exklusiv
christologisch verstehen und hat darin auch theologisch recht. Das Leiden
Gottes und das Leiden der Menschen ist nicht auseinanderzunehmen. Was wäre
gewonnen, wenn am Leiden Christi nicht auch das Leiden der Menschen
ansichtig und mit den tiefsten Fragen behaftet würde. Christus und/oder
andere Leidende: die Antwort ist inklusiv, nicht exklusiv zu formulieren.
Wie sind die Gestalten. Halbfiguren, Köpfe des
und der Leidenden gestaltet? Ein zufällig in seine Hände gekommenes Skelett
ist für den Künstler der Wendepunkt. Von da an rekonstruiert er den Menschen
von dem Skelett her, das ihn trägt. Baut ein Gerüst, breitet Tonrollen aus,
legt sie übereinander, manchmal sechs bis sieben Gesichtshälften. Fängt an,
sie zu kneten und zu formen, bis er einen Ausdruck im Gesicht spürt, der ein
Stück des Lebens ist, das der Künstler sucht. Statuarische, fast wie
ausgegrabene Vorzeitgestalten manchmal. Erst seit 1994 kommt stärkere
Bewegung in die Figuren hinein, eine Drehung des Körpers gegenüber den
Beinen, eine Wendung des Kopfes, wie ein Schritt.Aber eines verbindet alle
Gestalten und Köpfe, die frühen und die späteren: es sind verletzbare
Gesichter. Wie unfertig wirken manche, andere auch wie zerstört. Aber kann
man nach Auschwitz und Hiroshima den Menschen als heile Gestalt konzipieren?
Wenn auch nicht immer sichtbar, tragen wir nicht alle die tiefen Wunden der
Geschichte und der Krisen und der Untergänge in uns? Den Verlust der
Sicherheiten, den Identitätsverlust, die Glaubensunsicherheit. Die
Nichtidentität, die Brüche sind das Merkmal unserer Zeit. Peter Marggraf
macht sie sichtbar in den Köpfen und Gestalten der Menschen, die er formt.
Ecce homo: das ist nicht das griechische Ideal des Apollinischen, des
Wahren/Guten/Schönen, wenngleich diese unsere Tradition auch bei ihm immer
noch ahnbar bleibt. Ecce homo: das ist die biblische Gestalt des
geschundenen, des gestürzten, des einsamen und verlassenen Menschen.
Entscheidend wird bleiben, wie wir als
Zuschauende uns den Gestalten des Leidens stellen. Auch hier in der modernen
Kunst ist es ja so, daß Bild wie Skulptur sich erst im Betrachter
zusammensetzt und vollendet. Da wird es die Haltung der Distanz geben. "Das
ist ja furchtbar", werden manche sagen. Sie sehen primär das Kaputte, das
Abstoßende, und sehnen sich nach dem heilen und schönen Angesicht. Aber dann
wird es auch die Haltung des Mitleidens und der Solidarität geben. Ich
denke, es ist diese Haltung, in der Peter Marggraf an seine Gestalten
arbeitet. Als ich die Ausstelllung, noch im Aufbau, zum ersten Mal hier in
der Kirche sah, kam mir das Wort von Arnold Schönberg, des Meisters der
Zwölftontechnik, von der "Würde der Dissonanz" in den Sinn. Es ist eine
Würde in diesen Gesichtern, die mitten in aller Zerstörung, in allem
Unfertigen mich erreicht. Ich spüre meine Nähe zu den Gestalten, die um mich
sind. Und damit ist die Mehrdimensionallität des"Ecce homo" wieder da. Es
ist so unendlich viel Leiden in der Welt, eine Katastrophe und ein Krieg
löst den anderen ab, von den persönlichen Schicksalen ganz zu schweigen.
Aber das Leid ist nicht das Ende der Wege Gottes mit den Menschen. An
Christus, an seinem Leiden kann es erfahrbar werden, daß Gottes Nähe auch in
den Tiefen spürbar wird und gerade dort uns daraus rettet. Das mag die Würde
des Menschen im Leiden ausmachen, die Würde gerade auch der Dissonanz.
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