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Peter Marggraf - Plastiken und Zeichnungen

 

Ludwig Zerull

Über Plastiken zu schreiben ist schwieriger als über Kunstwerke anderer Art. Andersherum gesagt, Plastiker haben es schwerer als andere Künstler, denn wie man sich vorstellen kann, ist das Medium Plastik so weitgehend "unliterarisch", d.h. wenn man über Plastike schreibt, kann man nicht, wie sonst häufig, von der inhaltlichen Botschaft ausgehen.
Ein Plastiker hat entweder eine Form für seine Arbeit gefunden oder er reflektiert nur das, was Generationen von Bildhauern ihm hinterlassen haben.
Peter Marggraf gehört zu jenen Plastikern, die ihre Form gefunden haben - tatsächlich im gegenständlichen Sinn des Wortes "Form".
Frühere Arbeiten von Peter Marggraf zehrten bereits von dem gleichen Grundumstand wie die jetzigen. Damals nahm Peter Marggraf Menschen in Gips ab und legte die dadurch entstandenen Figuren in rohe oder geweißte Holzkästen. Wie Grabfiguren standen sie da in den Kästen, wie Mumien. Plastiken zustande gekommen mittels Herstellens einer Abgussform.
Einmal, anlässlich einer Herbstausstellung des hannoverschen Kunstvereins, 1976, ließ Peter Marggraf einen Sandhaufen in einen Raum schütten und drückte in den nassen und alle paar Tage erneut naß gehaltenen Sand die Negativform einer Kautschuk-Maske, die er von einem Gesicht abgenommen hatte. Eine Plastik, die durch den Austrocknungsprozeß täglicher Veränderung unterlag.
Zuvor schon, 1975, stellte Peter Marggraf Plastiken aus, die zunächst nichts anderes waren als die in weichem Kunststoff hergestellte Abgüsse von Teilen eines menschlichen Körpers, also abgegossene Torsi. Die verfremdliche Komponente dieser Körperabgüsse entstanden erst durch das verfremdete Material, Kautschuk, das sich gummiartig ziehen oder zusammendrücken ließ wie eine Karnevalsmaske. Die Figuren, die Peter Marggraf so herstellte, konnte er mit zwei Nägeln an die Wand pinnen, quasi wie die abgezogene Haut auf den schrecklichen Märthyrer-Bildern des Mittelalters.
In allen Fällen, bei den frühen Gipsen, bei der Sandepisode und bei den Kunststoff-Plastiken handelte es sich eben um eine vorgefertigte Form, die Ausgangspunkt für eine Plastik war.
So klassisch nun Marggrafs heutige Terracotta-Figuren wirken mögen, auch bei ihnen ist die vom Abguß menschlicher Körperteile gewonnene Negativform Ausgangspunkt. Marggraf nimmt von diesen in feuchtem Ton einzelne Körper-Versatzstücke ab, die den Reiz des Originären haben, und kann diese Teile collagieren, um das Bild des Menschen zusammenzufügen.
Das gelingt Peter Marggraf allerdings nicht so "wie dem Schöpfer": Peter Marggrafs Figuren sind aus heterogenen Einzelteilen zusammen gefügt. In jeder Figur wider5streiten das sich zufällig Ergebende und das Konstruktive, das vom soliden Aufbau einer - wie man weiß - schwer zu brennenden Tonform bestimmt wird.
Das Ergebnis solcher Collagen - ganz bewusst bediene ich mich dieser Charakterisierung - ist natürlich nicht so gekommen, weil der Brennofen nicht größer ist (als er ist), und Peter Marggraf drum in Teilen arbeiten musste. Vielmehr macht Marggraf die technische Gegebenheit zum Aussageprinzip: Er collagiert, flickt zusammen, komponiert neu. Wen? Den gestörten, den zerstörten Menschen? Da steht etwa der Abdruck eines Mundes mit geschlossenen Lippen, fein Realität abbildend im Detail, direkt neben einem Zahnabguß. Es ist. als fänden da Picasso-Gesichter der frühen Jahre mit mehreren gleichzeitigen Ansichten ihre Fortsetzung, ihren Aus-druck.
Detailgenaue Passagen wechseln mit konstruierten Menschengerüsten ab. Und Peter Marggraf hat alles - was bei dieser Technik nicht leicht ist - im Griff: Selbst Brüche im Ton lassen nicht erkennen, ob sie geplant oder Ergebnis eines unkalkulierbaren Zufalls sind. Die in die Schultern, in den Körpern versunkenen Teile eines Kopfes, wo stets der Hals zu fehlen scheint, verstärken den Eindruck vom zerstörten Menschen, den Peter Marggraf nur vorfindet.
Auch die Zeichnungen, kräftig im Körperaufbau, konstruktiv im mit dickem Graphit gezeichneten Striche, wirken gebrochen, die Menschen zerstört durch die sich überlagernden, zerrissen, eincollagierten Teile fotokopierter Gesichter. Stets nur Bruchstücke vom Menschen, zusammengeflickt und zusammengehalten vom großen Strich der Überzeichnung.
Peter Marggraf - fragt man ihn - will in seinen Arbeiten, den Plastiken wie den Zeichnungen, Literarisches, Interpretierbares zurückdrängen. Peter Marggraf ist auch kein Psychoanalytiker. Francis Bacon, der englische Maler, ist auch keiner. Aber Peter Marggraf wie er erschrecken uns mit ihren Gesichten, die Gesichter im Zustand des Erschreckens über diese Welt, in der wir leben, festhalten.

 

aus dem Katalog zur Ausstellung "Peter Marggraf - Plastken aus Ton und Zeichnungen" Kunstverein Marburg 1983