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Einmal nur ganz stille
Peter Marggrafs Plastiken und Grafiken in der Marktkirche Hannover

 

 

 

Von Marianne Winter

Bilder vom Menschen, nah an der Schöpfung, zeitlos wiederkehrend, Jahrtausende verbindend. Peter Marggraf hat sich dem ersten Thema der Kunst mit großem Ernst verschrieben, erforscht menschliches Verhalten und emotionalen Ausdruck. Die heitere Kunst, aus dem Spieltrieb geboren, ist nicht seine Bildsprache.
Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde aus Erde vom Acker, heißt es im 1. Buch Mose. Der erste Freigelassene der Schöpfung sollte er sein, selbst über Gut und Böse entscheiden und alles Geschaffene bewahren. Die primäre Grunderfahrung des Menschen aber ist Überlebenskampf. Und doch steckt dahinter die Erinnerung an paradiesische Zustände. Peter Marggrafs Menschenbild sucht nach dem Ausdruck dieser Lebenszustände.
In kleinen Statuetten, die alles Monumentale und Erhabene negieren, auch nicht aus hartem Gestein geschlagen werden, nähert er sich dem Thema.
Er modelliert die menschlichen Figuren aus Wachs, das schon in der Tradition des antiken Totenkults genutzt wurde. Unbearbeitet zeigt das formlose Material keinerlei Schönheit oder Ausdruck, aber es ist knetbar und ordnet sich gefügig jeder künstlerischen Gestaltgebung unter. Aus dem amorphen Nichts entsteht die Figur, das Wachs trägt Spuren der formenden Hand, paßt sich jeder Druckbewegung an, bewahrt Erhebungen, Vertiefungen und jede Art von Textur. Erst der nachfolgende Bronzeguss läßt die Form in festgefügter Hülle überdauern, ohne ihr die intuitive Unmittelbarkeit zu nehmen, er erhält dem Werden und Vergehen mit allen feinen Oberflächenmerkmalen gleichermaßen die Struktur.
Wachs ermöglicht spontanes Formulieren, das Lebendigwerden einer Idee, die Frische des augenblicklichen Gefühls zum Ausdruck zu bringen und zugleich jederzeit Korrekturen und Veränderungen vorzunehmen.
Der Bronzeguß erhält die spontan entstandene menschlichen Figur mit all ihren Regungen, bewahrt Bewegung und Ruhezustand, Verletzung und Vollendung. Die erdfarbene Patina läßt Assoziationen zum biblischen Schöpfungsprozesses aus dem archaischen Bodenmaterial zu.
Marggrafs Menschenbild wirkt nahezu geschlechtslos. Seine Torsi, ob männlich oder weiblich, stehen für die Menschheit. Es gibt keine modischen Attribute – sogar auf Gesichtszüge wird verzichtet –, aber körperliche Unterschiede markieren Kraft oder Unsicherheit, männliche oder weibliche Körpersprache. Amorphe Natur, anatomisches Ertasten, die Entfaltung von Energien – alles steckt in der Modellierung, die auf der Suche nach dem gewünschten Ausdruck die Arbeitswege offen zeigt. Nichts wird geglättet und kein klassisch vollkommener Endzustand angestrebt. Marggraf erweckt nicht die äußere Vollkommenheit eines Apoll, nicht die körperliche Schönheit einer Venus. Gestalten aus Mythologie und Literatur sind dem belesenen Künstler Leitbilder, aber er formt den inneren Ausdruck, sucht nach dem modellierbaren Zentrum des Wesens, dem Kernvolumen.
Durch Komprimierung der Figur und Fragmentierung wird die Körpersprache hervorgehoben. Marggraf konzentriert sich auf das Nonfinito, das rechtzeitige Aufhören im Unfertigen, die Metamorphose vom amorphen Material in die Figur. Seinen Torsi fehlen häufig die Arme, ohne den Menschen handlungsunfähig erscheinen zu lassen. Er verzichtet auf Gesichtszüge und Mimik. Der entsprechende Ausdruck kommt über die Körperhaltung und Bewegung: die Drehung der Körperachse, das Schwingen des Rumpfes und der Arme, eine Neigung des Kopfes, die Beugung des Knies. Schon minimalistische Bewegungen übertragen ein Gefühl des inneren Befindens. Sinnbild vitaler Entfaltung.
Jederzeit könnte eine andere Situation auftreten, alles steckt voller Leben. Des Menschen Erwachen, sein Selbstbewusstsein, seine Freude, seine Unruhe, aber auch seine Gebrechlichkeit, sein hilfloses Ausgeliefertsein an menschliche Macht bis hin zum Kreuz sind in diesen Gestalten enthalten.
Neben den Plastiken beschäftigen den Bildhauer die Zeichnung und Druckgrafik. Neutral nachgiebiges Linoleum für den Hochdruck, weicher Vernis mou-Grund für den Tiefdruck. Beide Bildträger ermöglichen die Arbeit mit organischen, schwingenden Linien, die dem Wachstum in der Natur entsprechen. Dazu kommen der Handabzug und der Druck auf einer alten Handpresse. So entsteht das individuelle Werk, die ganz persönliche Gestaltung mit kleiner Auflage, handsigniert.
Zehn Monotypien hat er für Georg Büchners „Woyzeck“ geschaffen. Jeder Druck einmalig und unwiederholbar. Mit weißer Druckfarbe auf schwarzem Papier, einer Technik, die besonders sensible Zeichnungen ermöglicht, entwikkelt er die Figur im schwingenden Konturverlauf, lebendig schon im Umriss, jede Linie unkorrigierbar, das Weiß der Druckfarbe opak schimmernd wie eine Haut. Mit kalligraphisch anmutendem Wechselzug, kraftvoll verstärkt oder zart tastend, entsteht die Figur, eine zeitlose Gestalt, anatomisch vollendet gezeichnet, ein Mensch in unterschiedlicher Verfassung. Seine Mimik deutet Aufmerksamkeit und Schmerz.
„Ein Jegliches hat seine Zeit“ – so steht es im Prediger Salomo.
Peter Marggrafs Werk widmet sich dem Thema Mensch. Es umspannt Werden und Vergehen, die Einmaligkeit des Individuums im Kontext der Menschheitsgeschichte. Sein Handwerk bleibt verwurzelt in der Tradition und bewahrt eine Ausdrucksform, die frei von allen Zeitströmungen dem menschlichen Leben einfühlsam und voller Achtung begegnet.