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Der Schmerz Gottes
Der nackte Tod und was auf ihn folgt: Peter Marggrafs Buch „Passio“

 

 

 

Bert Strebe

 

Von dem amerikanischen Beat Generation-Lyriker Gregory Corso (1930 – 2001) gibt es ein Gedicht mit dem Titel „Ecce Homo“. Darin findet sich die Zeile: „die Nägel gingen durch den Mann und trafen Gott.“
Als der 1935 in Estland geborene Komponist Arvo Pärt, der seit langem in Berlin lebt, 1982 sein Werk „Passio“ in München uraufführen ließ, hatte er vielleicht etwas Ähnliches im Kopf. Die Vertonung der Leidensgeschichte Christi aus dem Johannes-Evangelium, mit vollem Namen „Passio Domini nostri Jesu Christi secundum Joannem“, ist ein Vokalstück für Solisten, Chor und kleines Orchester. Was man hört, ist äußerste Reduktion. Die Musik verwebt Gregorianische Gesänge des Mittelalters, die Polyphonie der Renaissance und russisch-orthodoxe Hymnik, aber sie löst sich gleichzeitig von diesen Wurzeln und läßt etwas völlig Neues entstehen: eine Musik, die hinter die Stille zurücktritt. Sie ist an keiner Stelle laut, nur das „Amen“ am Schluß setzt einen Akzent: So sei es.
Arvo Pärt selbst hat einmal gesagt, seine Musik sei eigentlich nackt. Und in dieser Blöße und Schutzlosigkeit und dem verhaltenen Gesang, der eher ein Schweigen ist, spürt man plötzlich den Schmerz. Den Schmerz des Mannes, durch den die Nägel gehen. Den Schmerz der Gläubigen. Und vielleicht sogar – wenn das keine Anmaßung ist – einen Anflug vom Schmerz Gottes.
Und jetzt können wir das nicht nur hören, sondern auch sehen.
Peter Marggraf hat sein Buch „Passio – Die Johannespassion“, 2013 erschienen und das sechste in Marggrafs Reihe „i libri bianchi“, im ersten Teil genauso aufgebaut wie das Textheft zu Pärts „Passio“. Wir lesen die Verse aus Johannes 8, 1 – 4 und aus Johannes 19, 1 – 30, in lateinischer und deutscher Sprache, von der Stelle, an der Judas die Soldaten zu Jesus führt, über Pilatus und die Dornenkrone bis zum Kreuz – Folter, Schmerz, Tod. Die Schrift, Optima, ist schlicht und klar, rot (wer spricht) und schwarz (was wird gesprochen). Der Textteil ist sparsam bebildert, eine Zeichnung zeigt sogar eine Arbeit aus Peter Marggrafs Mappe „Georg Büchner – Lenz“ von 2012, die vordergründig wenig mit der Geschichte Christi zu tun hat. Graphitstift, mit ein paar Pinselstrichen rot aquarelliert, und das könnte ein Lenz sein, der sich mit geneigtem Kopf und ausgebreiteten Armen und hervortretenden Rippen vor der Verzweiflung beugt. Aber die Haltung ist nicht von ungefähr auch die Haltung des Gekreuzigten.
Mit Seite 33 beginnt Teil zwei des Buches. Überschrieben ist er mit „Crucifige eum“, dem wütenden „Kreuziget ihn!“ der Hohepriester und der entfesselten Menge. Wir sehen Christus am Kreuz, vierundzwanzigmal. Buntstift, Graphitstift, Acryl. Der bekannte, der vertraute rasche Strich von Peter Marggraf – aber mit welcher Intensität! Auf den ersten Blick könnte man meinen, diese Bilder schreien. Der gequälte Körper in den schmerzhaftesten Positionen, das ganze Gewicht an drei Nägeln. Acrylpinselstriche in dunklem Blutrot, fast dickflüssig und als sei jemand mit den Fingern durch eine Lache auf dem Boden gefahren. Selten ist das Gesicht des Christus detailliert ausgebildet, aber einmal, auf Seite 51, verschwimmen die Beine des Sterbenden beinahe im Zittern und sein Gesicht neigt sich zur Seite, der Mund offen, die Augen schon fast gebrochen – das muß der Moment sein, in dem er seinen Vater gefragt hat, warum er ihn verlassen habe.
Diese Zeichnung, Graphit, gehört übrigens zu einer Ganzleinenmappe zur Entstehung des Buches, eine Mappe mit Korrekturblättern und Gestaltungsskizzen und Originalzeichnungen. Die Kunstsammler Brigitte und Gerhard Hartmann haben sie für das Dommuseum in Hildesheim angekauft. Dort gibt es auch schon andere Arbeiten von Peter Marggraf, die, wie diese Mappe, nach Fertigstellung des neuen Museums 2014/2015 der Öffentlichkeit zugänglich sein werden.
Und Öffentlichkeit brauchen und verdienen diese Bilder. Wer sich mit ihnen beschäftigt, merkt rasch, daß sie keineswegs schreien. Im Gegenteil. Ja, wir sehen einen Menschen sterben, einen Menschen, dem das Ende des Lebens grausam schwergemacht worden ist: „die Nägel gingen durch den Mann“. Aber je länger man blättert und schaut und wieder zurückblättert und schaut, um so stiller wird es. Peter Marggraf zeigt den Tod, den nackten, bloßen Tod, aber er zeigt auch das Akzeptieren des Todes. Die Transzendenz. Die Gewißheit, daß der Tod nur der Tod, aber nicht das Ende von allem ist. Und daß Gott zwar getroffen, aber nicht ausgelöscht werden kann. Ein Bild, eine Kaltnadelradierung, zu sehen auf einer Doppelseite, heißt: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände“. Ein paar sparsame Striche. Nahezu kein Abbild des Körpers mehr, eher ein Abdruck, wie auf einem Grabtuch. Da ist er schon beinahe wieder auferstanden.
Die konzentrierte Stille, die diesen Bildern und diesem Buch innewohnt, korrespondiert mit der schweigsamen Musik von Arvo Pärt. Peter Marggraf besitzt die „Passio“-Aufnahme noch als Vinyl-Platte. Und so wie Pärt jahre- oder jahrzehntelang an einem Musikstück arbeitet, versammelt auch Marggrafs „Passio“-Buch Arbeiten, die bis 1989 zurückreichen.
Die Nägel, die Christus durchbohrt und dadurch Gott getroffen haben, haben ihn vielleicht geschmerzt, das wissen wir nicht. Aber er wird wissen, was der Philosoph Peter Singer einmal gesagt hat: Daß nämlich Glück nicht aus der Abwesenheit von Leid entsteht. Sondern aus dessen Überwindung.

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