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STILLE DIALOGE
Suchen, um zu finden. Zum Werk von Peter Marggraf

 

Michael Stoeber

 

Von Picasso stammt die hochfahrende Selbsteinschätzung: „Ich suche nicht, ich finde“. Mit dieser Selbstbeschreibung reanimiert der Spanier für die Moderne noch einmal ein eher antiquiertes Künstlerbild. Das des Künstlergenies und Künstlertitans, wie wir es vor allem aus dem neunzehnten Jahrhundert kennen. Ein Bild, das im letzten Jahrhundert aber auch die amerikanischen Expressionisten wie Jackson Pollock von sich zu geben liebten. Ein Künstler, dem wie dem antiken Midas alles zu Gold wird, was seine gestaltende Hand berührt. Gleichgültig, worauf Picasso seine Aufmerksamkeit wendet, ob auf Malerei, Skulptur, Zeichnung oder Töpferwerke, alles wird ihm zum blendenden, überraschenden Wurf. Zur Zauberei, vor welcher der Zeitgenosse in Augen reibender, ehrfürchtiger Überwältigung verharrt. Angesichts eines solchen Werkes bleibt ihm nur die Andacht, ein quasi evangelikales Gefühl. Das Mitschaffen, Mitgestalten und Mitformulieren des Betrachters schließen solche Werke eher aus.
Der Künstler Peter Marggraf setzt radikal anders an, und radikal anders ist daher auch die Stellung, die er dem Betrachter vor seinen Werken einräumt. In Analogie zu der Picasso-Phrase könnte man Marggraf als Programm seiner künstlerischen Arbeit den Satz in den Mund legen: „Ich suche, um zu finden“. Mit dieser pragmatischen Wendung der piccasoesken Pathosformel „Ich suche nicht, ich finde“ negiert der niedersächsische Künstler jeden Anspruch auf eine Existenz als gestalterische Großmacht, der es um bedingungslose Gefolgschaft ihres Publikums geht. Indem Marggraf einen Habitus adoptiert, den wir alle aus unserer Alltagswirklichkeit kennen, nimmt er uns mit hinein in seine artistischen Findungs- und Gestaltungsprozesse. Er öffnet sich und läßt uns teilhaben an seinen Skrupeln und Ängsten, Verwerfungen und Niederlagen wie an seinen Siegen, am Glück des Ankommens, Findens und Erreichens. Werk und Person werden eins. Sie fließen bei Peter Marggraf ineinander. Der Blick auf das Werk ist zugleich ein Blick in das Herz und Hirn seines Schöpfers.
Schauen wir auf Peter Marggrafs vielfältige und unterschiedliche künstlerische Tätigkeiten, so lassen sie sich grosso modo in vier große Abteilungen einteilen. Ich nenne zuerst die Zeichnung und Druckgrafik des Künstlers, dann die großen Plastiken aus Ton, die man als besonders signifikant mit dem Schaffen Marggrafs verbindet, weiter die in den letzten Jahren hinzugekommenen Bronzefiguren und schließlich die schönen Bücher seiner San Marco Handpresse.
Die Zeichnung ist die schnellste Verbindung zwischen Einfall und Ausführung, zwischen Vorstellung und Gestaltung, daher soll sie hier zuerst betrachtet werden. Bei Peter Marggraf ist sie in jedem Fall ein medium sui generis, ein Darstellungsmittel aus eigenem Recht. Keineswegs etwa nur bloße Skizze oder Hilfsmittel zur Verfertigung seiner Plastiken und Skulpturen, auch wenn er sich hin und wieder vom Ausdruck dieser zweidimensionalen Blätter zu dreidimensionalen Werken anregen läßt. Was indes sofort ins Auge fällt ist, daß Marggrafs Zeichnung wie Skulptur stets um das Thema des Menschen kreisen. Um die Herausarbeitung des menschlichen Körpers, dessen Fixierung immer auch die Fixierung eines état d´âme, eines Seelenzustandes, ist. Der Begriff des Kreisens ist hier von zugleich wörtlicher und übertragener Bedeutung. Er bringt sehr schön das Suchende der zeichnenden und radierenden Hand in Anschlag. Marggrafs Recherche dieser états d´âme artikuliert sich in ganz unterschiedlicher Weise. Mal fixiert der Künstler das Wesentliche einer Figur in präzisen und detaillierten Strichen, dann wieder sind die Lineaturen eher ungefähre und flüchtige. Mal sind die Konturen einer Figur presto und a tempo aufs Papier gebracht, dann wieder zögernd und bedächtig. Mal sehen wir schimärische, dann wieder ganz vertraute Figuren. Stets indes haben wir das Gefühl, daß auch in diesen Abbreviaturen, in diesen reduzierten Körpern das Innere sich nach Außen verkehrt. Daß die Figur zum Zeichen wird, daß sich im Physischen Spirituelles zeigt. Dieses Innere ist nicht nur feingeistig und filigran. Es kann durchaus auch brachiale und gewalttätige Züge zeigen. Gerade die mit den Fingern gefertigten Zeichnungen aus den letzten Jahren mit ihrer roten, an geschundenes Fleisch erinnernden Acrylfarbe, die dabei zum Einsatz kommt, bringen einen élan vital, eine Lebensgier und Lebenslust, zum Ausdruck, die alles andere als im Zustand der so oft von Marggraf gesehenen Meditationsbilder verharrt.
Wenn sich hier Brüche zeigen in den Reihen der gezeichneten Bilder vom Menschen, so sind Bruch und Riß für Marggrafs große Plastiken aus Ton geradezu konstitutiv. Was dem Betrachter sofort ins Auge fällt, sind die malträtierten Köpfe der Figuren. Ihre Risse, Schnitte und Quetschungen deuten auf Verletzungen hin. Die verwüsteten Gesichter tragen die Spuren all dessen, was Menschen Menschen antun können. Es ist, als seien alle Greuel der Zeit über sie hinweggegangen. Auch in den Plastiken betreibt der Künstler wie bei den Zeichnungen Reduktion. Der Körper wird als gestalterisches Element vernachlässigt, während Mund, Nase und Augen hervorgehoben werden. Marggraf kultiviert ein Wechselspiel von Reduzieren und Prononcieren. Dem Leiden und den Verletzungen, die über diese Menschen hinweggegangen sind, korrespondiert eine Vielfalt an Reaktionsmöglichkeiten. Sie reichen von religiöser Demut, mit der ein Mensch auf die Zumutungen des Lebens reagiert, über fragendes Erstaunen bis hin zur kämpferischen Attitüde und zum vitalen, zornigen Trotz, mit dem der Mensch den Lebenskampf annimmt und das scheinbar absurde Leiden auf sich nimmt. Dem ersten Eindruck, in diesen Werken das geschundene, verletzte Antlitz des Menschen unserer Zeit zu sehen, der je nach Temperament und Mentalität demütig, flehend, ergeben, trotzig oder kämpferisch auf die Zumutungen des Lebens reagiert, korrespondiert ein zweiter. Marggraf ist nicht nur Seismograf zeitgenössischer Verletzungen, sondern auch Heiler. Er nimmt den Bilderschutt der Moderne, sucht ihn neu zusammen zu setzen und aus ihm das in der zeitgenössischen Kunst oft vernachlässigte - figurative -Bild des Menschen zu schaffen. In dieser Lesart wird das Mosaik der Tonlappen, aus denen sich der Eindruck der fragmentierten Gesichter und zum Teil auch Körper herleitet, zum Bild von Bandagen. Bandagen, die empfangene Wunden decken und zugleich dem Skelett aus nachgiebigem Ton, aus dem sich Marggrafs Figuren aufbauen, Struktur und Fleisch geben.
Wenn T. S. Eliot zwischen den beiden letzten großen Kriegen diagnostizierte, was wir heute in Händen hielten, sei „just a heap of broken images“, nur noch ein Haufen zerbrochener Bilder, dann ist Peter Marggraf der unverbesserliche und unermüdliche, gläubige und nicht wankende Don Quijote unter den zeitgenössischen Künstlern, der diese Bilderscherben wieder zusammenzusetzen versucht zu einem Bild des Menschen, das alles andere als heroisch und erhaben ist und gerade in seinen Verletzungen und in seiner Verletzlichkeit zum Emblem der zeitgenössischen condition humaine wird. Diese Empfindlichkeit zeichnet auch die neuen Bronzeskulpturen des Künstler aus. Ihnen liegen Wachsmodelle zu Grunde, die Marggraf immer wieder neu geknetet und durchgeformt hat, bis ihre Körper aussehen, als sei ein Wirbelsturm über sie hinweggegangen. Die Dynamik, die sich diesen Körperabdrücken eingeprägt hat, ist keine futuristische Hommage, kein Lob der Technik und des technischen Menschen, kein futuristischer Fortschrittsfuror, sondern eher uralte Archaik. Die bloße, verletzliche Existenz als überdauernde Signatur des ausgesetzten, zerbrechlichen Menschen. Das verbindet die beweglichen Bronzen aus einem Guß mit den tektonisch aufgebauten, statuarischen Tonskulpturen.
Dieses Bild vom Menschen, das es gerade wegen seiner Angreifbarkeit zu bewahren gilt, findet sich in mehrfacher Weise aufgehoben in den Büchern und Mappen, die der Künstler seit 1992 auf einer alten Handpresse fertigt und verlegt. Aufgehoben im Sinne von bewahrt, weil so heute in der Regel keiner mehr Bücher macht. Der traditionellen Machart korrespondiert der traditionelle Name der Handpresse: San Marco. Ausgeliehen hat ihn sich Peter Marggraf vom genius loci seiner Kunst: Venedig. Dort fährt er seit Jahrzehnten regelmäßig hin, um sich im Dialog mit der alten Kunst einmal mehr auf die Suche zu machen nach Maßstab und Anregung für die eigene Kunst. Die Dialoge, die er dort führt in der Stadt von Tizian und Tintoretto, von Bellini, Carpaccio und Veronese, sind sehr stille und sehr konzentrierte Gespräche, gerade so wie es der Titel dieser Werkstattzeitung nahe legt. In ihnen erfährt er in aller Klarheit, was er als Künstler schon immer ahnte: Wie glänzend und elend zugleich das Leben ist. Vielleicht noch klarer spricht sich dieser Doppelcharakter des Lebens bei den Dichtern aus, die Peter Marggraf verlegt: Bei Büchner und Beckett, Kafka und Bachmann, Heine und Rilke, Trakl und Bulla. Und weil das so ist, gilt auch hier die unnachahmliche Devise von Samuel Beckett: „Scheitern, wieder scheitern, besser scheitern.“ Denn, so der Dichter in „Warten auf Godot“: „Wir gebären rittlings über dem Grabe, der Tag erglänzt einen Augenblick, dann wieder die Nacht.“