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AUS ERDE GEMACHT

 

 
Eine Aktion mit Köpfen aus frischem Ton auf dem Aller-Deich bei Rethem. Freigegeben zum Verwittern.

 

 

Der nachstehende Text ist die gekürzte Neufassung einer Rede, die der Autor im Sommer 2009 zur Eröffnung der Ausstellung „Aus Erde gemacht“ von Peter Marggraf in Wohlendorf/Rethem gehalten hat.

 

Wilhelm Steffens

Mit tiefem Ernst, mit beträchtlichem Mut, mit Unbeirrbarkeit und erstaunlicher Unabhängigkeit arbeitet dieser Meisterschüler Cimiottis ungeachtet nervös wechselnder Moden, Trends und Tendenzen am figürlichen Menschenbild. Ist er deswegen unmodern? Fällt er deswegen aus der Zeit? Nun, er kennt die Tradition, er ist mit den Jahrhunderten im Gespräch, mit dem großen Kanon der Formen, aber ein Traditionalist ist er nicht im Sinne jenes falschen Wortgebrauchs, der Tradition mit Beharren und Stillstand verwechselt, sondern in dem wahren Sinne von Tradition als zeitgenössisch aneignender und abwandelnder Übernahme und Übersetzung von – wo es sich um große Kunst handelt – zu solchem Zwecke immer schon durch die Jahrhunderte Weitergereichtem.
Ich bin ja nicht der erste, der zum Werk von Peter Marggraf sich äußert. Das soll mich aber nicht zur Originalitätssucht verführen und mich nicht hindern, Ähnlichkeiten oder Übereinstimmung mit anderen Stimmen erkennen zu lassen, wo ich sie mit der eigenen im Einklang weiß.
Nach strenger Begriffsanwendung ist Peter Marggraf gar kein Bildhauer. Stein und Holz sind nicht das Material seiner Plastiken, Hammer und Meißel nicht seine Werkzeuge. Er formt Wachs für den Bronzeguß und Tonerde für den Brand der Terrakotten. Das tut er mit den bloßen Händen und gelegentlich anderem Werkzeug zum Wegschneiden, Einritzen usw. Und mit dieser Feststellung ist schon sehr viel über seine Figuren gesagt. Sie haben etwas Fragmentarisches an sich, wirken unfertig, womöglich auch für den, der nicht spontanen Zugang findet, etwas „zerstörerisch Zerstörtes“. Aber der Einblick in Peter Marggrafs Arbeitsweise, in sein ganz wortwörtlich zu verstehendes „Handwerk“ zeigt, daß er gerade nicht zerstört. Er schlägt eben nicht aus Stein und Holz, in denen etwas „Idealisches“ stecken könnte, gegen das Potential des Materials etwas „Verformtes“, etwas Krankes, Verletztes, Zerstörtes heraus. Vielmehr sind seine inneren „Vorbilder‘ vom Menschen, vom Menschen, der mit dem Tode lebt von Anfang an, vom Menschen unserer Zeit besonders, der nicht mehr „ganz“ ist, nicht heil, zerfallende Bilder, Scherben.
Nun sammelt aber Peter Marggraf nicht die Scherben zuhauf und stellt den Scherbenhaufen aus als politische, moralische, ästhetische oder theologisch konzeptuelle Geste, nein, er baut die menschliche Figur – ästhetisch und handwerklich gesehen – und ein Menschenbild – anthropologisch, philosophisch, erkenntnistheoretisch gesehen – überhaupt neu erst auf. Das Fragmentarische, das Unfertige, das „non finito“, die Spur eines vermeintlich zerstörerischen bildnerischen Aktes kommen in Wahrheit aus Peter Marggrafs Suche nach Wahrheit in seinen Menschenbildern. Bei dieser Suche ist er an einer Grenze fündig geworden in der Einsicht in „Unheil“. Mit Unheil meine ich hier nicht konkret benennbare aktuelle Katastrophen, sondern die konstante Vorläufigkeit der menschlichen Existenz.
Die Katastrophe gab und gibt es.
Der Sysiphus Peter Marggraf baut aus dem bloßen Urmaterial, zu dem wir schon verfallen waren, neu den Menschen auf, aber nicht heil, nicht ganz, nicht vollendet, nicht ideal.
Ich sage ganz bewußt: „den Menschen“. Es ist nämlich sehr typisch für Peter Marggraf, daß er nie als Portraitist arbeitet und außerdem eher selten einer seiner Figuren außer sachlichen Bezeichnungen, die ihrer Auffindbarkeit nach Verzeichnissen dienen, etwa Namen gibt wie „Eva“ oder „Boxer“.
Fast unheimlich ist mir, daß ich in diesem anonymen und fragmentarischen Figurenkosmos noch dem Gesichtslosen ins Auge schauen und mit dem Mundlosen sprechen kann.
So war mein erster Eindruck. So ist es geblieben.
(...) Vorgestern, als ich mich umsah hier im Raume inmitten der Objekte der noch nicht fertig arrangierten Ausstellung, um mich vorzubereiten für diese Eröffnungsrede, waren auch Journalisten zu einer Vorbesichtigung da. Jemand stellte Peter Marggraf die Frage, wann er denn, wenn er schon das „non finito“ von vornherein im Blick habe, sich die Grenze setzte, wann er aufhöre. Das wäre auch meine, freilich aber kaum auch gestellte, Frage gewesen: wo und wann im Akt der Schöpfung des Unvollendbaren, weil nicht Heilbaren, ein Ende zu machen sei. Die Antwort, zunächst gewiß verblüffend, letzten Endes aber poetisch einsichtig, erschien mir als eine der hellen Paradoxien, in denen echte Mystik in rationaler Bindung nüchtern bleibt: „Ich höre auf“, sagte Peter Marggraf, „wenn die Figur ihren Frieden mit mir geschlossen hat“.
Die Fragestellerin mochte offenbar ihren Ohren nicht getraut haben. Aber Peter Marggraf bestand darauf, daß nicht er mit der Figur, sondern diese mit ihm ihren Frieden geschlossen haben müsse, ehe er aufhören könne.
Das nenne ich künstlerische Demut, existentiellen Ernst und „sysiphale“ Hoffnung.
Im Gespräch mit Jahrhunderten zu bleiben, um in der Gegenwart schaffend standhalten und selbst etwas in die Zukunft reichen zu können, das alles ist Entscheidung und Leistung Peter Marggrafs.
Sein „non finito“ ist nicht erst unsere Beobachtung an seinen Menschenbildern, sondern schon sein Programm.
Absicht oder Abbruch einer Arbeit, das wurde und wird hier und da immer auch gefragt und umstritten angesichts des Sklavenfrieses von Michelangelo mit den wie im Stein festgehaltenen Figuren. Unbehagen und Mißverständnisse kennzeichnen die Rezeptionsgeschichte dieser Arbeiten. Von nahezu „jedermann“ gefeiert und „verstanden“ wird Michelangelos „David“. „Ideal“ sei er und „realistisch“. Und er sei ideal, weil realistisch. Freilich: der „David“ ist „Ideal-Porträt“. Und in keiner Weise fragmentarisch. Aber realistisch? Wenn die guten Leute wüßten, was ein Genie wie Michelangelo wegzulassen verstanden hat, ohne daß wir‘s recht bemerken. Soll der David weiterhin für „schön“ gelten. Aber kanonisieren sollten wir unsere Begriffe danach nicht. Sonst ertaubten unsere Augen und wir sähen womöglich nicht die Schönheit der Menschenbilder eines Peter Marggraf, eine Schönheit, die ein anderes Wort ist für: Nähe zur Wahrheit.