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Gegenwelten

Ein Besuch bei dem Künstler Peter Marggraf

 

 

Birgit Rühe

 

lieber freund,wie magst du denken, ich könnte dir zwei bis drei sätze über den künstler peter marggraf schreiben. das ist in dieser kürze nicht zu machen. so magst du alles lesen,
herzlich, b.


Der Kirschbaum ist gefällt. Nur noch ein Baumstumpf, Jagdsitz der Katze.
Sieh mal, werde ich zu Jean sagen, ehe er heute Abend den Rasen mäht, überall hatsich der Kirschbaum nun selbst ausgesät. Überall wachsen junge Kirschbäume. Und Jean wird mir zuliebe einige Inseln mit Hahnenfuß, Gänseblumen und den wilden kleinen Kirschbäumen stehen lassen.
Heute sah ich einen anderen Garten: den Garten des Künstlers. Er wächst durch eine weit geöffnete Tür bis ins Atelier. Farn und Rosen, Efeu und hohe Bäume, in denen Vögel singen. Das helle Rund einer Grotte aus geschichteten Steinen.
Im Raum stehen Figuren aus schwärzlichem Ton. Schimmernd wie alter Eisenguß.
Stehen beieinander wie Menschen, sind fast so groß wie Menschen, sind verletzt und zusammengefügt. Ihre Köpfe wie bandagiert. Ihre vollen Lippen.
„Manchmal, wenn die Sonne auf ihnen liegt...“, sagt der Künstler und läßt den Satz so im Raum stehen. „Wie Gold“, denke ich, „ es muß wie Gold sein.“
Und ich berühre zaghaft den Arm einer Figur.
„Ich möchte heil machen“, sagt der Künstler. „Das dauert manchmal lange.“
Dieses Wort “heil machen“ gefällt mir sofort. Und ruft eine Erinnerung wach:
Mein zweiter Bruder war der Heilemache-Bruder in der Familie. Er reparierte Puppen und Pferde mit drei Beinen und die alte Eisenbahn, die immer wieder stehen blieb.
Mit gleicher Geduld sah er den Ameisen zu, wie sie die Hauswand hochkrabbel-ten.
„Die Figuren“, sage ich zu dem Künstler, „sind wie eine Familie.“
Es gibt Brüche und Wunden, aber auch Nähe.
In einer Ecke des Ateliers steht ein Skelett.
„Das“, sagt er, „bekam ich schon als Student von einem Freund. Es kam aus der Anatomie und daran befestigt waren kleine Stücke aus Stoff, Muskeln, die von den Studenten an den richtigen Stellen festzuknoten waren.“
Daraus entstand die Idee mit den Drahtfiguren.
„An diesen Gerüsten aus Draht habe ich lange gelötet.“
Er hält einen Kopf aus Draht in den Händen.
„Ich modellierte Körperteile und knotete sie an.“
Wochenlang löten? rief der Professor. Das muß schneller passieren!
Heile machen dauert länger, sagte Peter Marggraf.
Peter Marggraf war Meisterschüler bei Professor Emil Cimiotti.
Er zeigt mir das winzige Bild eines römischen Torso. Es geht ihm um die Technik des Heilemachens. Darf man so reparieren, daß es sichtbar bleibt?
„Eine schwere Verletzung, die notdürftig verheilt ist“, sagt meine Freundin, als sie später die männliche Figur mit untergeschlagenen Beinen betrachtet.
„Eine Verletzung mitten durchs Gesicht mit einem Messer, einem Schwert“, sagt meine Freundin.
„Das war der Anfang meiner Tonarbeit“, sagt er. „Immer geht es mir um Menschen. Nicht um ein Individuum. Ich taste mich an das Bild des Menschen heran, ergänze die Scherben, die ich vorfinde. Es entsteht eine Beziehung, ein Gespräch. Irgendwann höre ich auf. Es ist genug heil gemacht.“
Lange Zeit danach kann es sein, daß die Figur für ihn negativ wird, daß er sie zerstört oder auf dem Grundstück vergräbt. Viele Skulpturen sind hier ums Haus herum vergraben.
„Eine kleine Skulptur schenkte ich mal, statt sie zu zerschlagen, einem Freund, der mich darum bat. Jetzt, wenn ich ihn besuche, 30 Jahre später, sehe ich diese Figur – und es macht mich froh, daß es sie gibt.“
Wir sprechen über Kafka und Max Brod und ob Kafka wirklich wollte, daß alles vernichtet würde.
„Nicht das Klare, Sichtbare interessiert mich“, sagt Peter Marggraf. „Ich mag im Nebel auf etwas zugehen. Ein Nebel wie im Erlkönig zum Beispiel.“
Je näher, umso klarer. Das Geklärte aber ist das Langweilige. Er will nicht dasVollständige, will nie den Endzustand erreichen. Es ist die gleiche Vorgehensweise wie in der Renaissance. Michelangelo hat bewußt Skulpturen nicht vollendet. Es gibt da diese halbfertige Pietà ...
„Das Unfertige aushalten“, sage ich.
„Meine Arbeit an den Skulpturen ist sehr konzentriert und nimmt mich sehr mit.
Ton, das ist intensive Arbeit. Gewicht, Größe, etwas sackt zusammen... Es bewegt mich. Aber auch das Zeichnen bewegt mich. Das weiße Papier.
Es ist die gleiche Vorgehensweise wie bei den Skulpturen.
Ich umkreise eine Figur immer weiter, suche, bis ich reagieren muß.
Ich nehme einen dicken Graphitstift, entdecke. Die Dinge entstehen irgendwann – oder ich höre auf, werfe das Blatt weg. Nie benutze ich einen Radiergummi.
Holzschnitte sind selten. „Mit dem Messer das Holz verletzen? Ich mag nicht das Harte.“
Aber die Radierung. Und er erzählt mir von der sanften Vernis mou - Technik.
Da wird Talg auf das Metall gebracht, nach Ätzung und Druck. Das werden fast bleistifthafte Kreidezeichnungen.
Zuletzt kommt die Farbigkeit.
Er zeigt mir einige Beispiele. Rot. Grün. Grau.
„Grau wählt er gern“, denke ich, „aber manchmal auch ein sehnsüchtiges Rot“.
„Der Mensch“, sagt er, „mein Arbeitsthema ist der Mensch.
Martialisch als Krieger, Boxer. Einsam als Prometheus, Christus, Raskolnikow...“
Endlich das vom Künstler fertig gedruckte Buch!
Wieder hat er eine neue Form seines immer gleichen Themas gefunden: der Mensch.
Mehr als ein Jahr hat er an Kafkas „Verwandlung“ gearbeitet:
„In dem Augenblick, wo ich setze, bin ich so nah am Text, wie der Autor selbst.
Stunden, Tage drucke ich, lese Korrektur, lese noch mal, drucke.
Ich bin dann sehr beglückt.“
So mußte dieser Künstler wohl zum Büchermachen finden.
Nun ja, es gab äußere Anlässe: Eine alte Linotype-Setzmaschine von 1928 war günstig, fast umsonst zu erwerben. Es gelang (und das war spannend und mühevoll), einen alten Mann zu finden, der ihm den Umgang mit der Maschine zeigte, der sie mit ihm in tausend Einzelteile auseinandernahm und wieder aufbaute.
Der Künstler setzt für mich die Maschine in Gang – ein Text von Johann P. Tammen ist zu sehen – und plötzlich verändert er sich zu einem tüchtigen Handwerker. Seine Bewegungen sind kraftvoll, gezielt, sicher. Vor meinen Augen ersteht die vergessene Wirklichkeit des Setzens, wie vor 50 Jahren.
Es gibt zwei alte Druckerpressen – eine ist 1925 in Leipzig gebaut – im Atelier, dann eine alte Plakatpresse, eine neuere Tiefdruckpresse für Illustrationen.
Sie stehen wohl gewartet und dunkel glänzend an den Wänden.
Material zum Buchbinden wartet.
Fertige Bücher liegen aus.
Venedig. Wir haben noch nicht über Venedig gesprochen.
Die Geräusche, die Gerüche (ja, auch die Gerüche! ) faszinieren ihn.
Die Langsamkeit. Das Maß der Bewegung wird durch den Menschen bestimmt,
nicht durch Maschinen.
„Ich laufe viel durch die Stadt. Bleistift. Papier. Ich kritzele, entdecke, halte fest.“
Er öffnet einige Skizzenhefte. Fast schwarze Seiten. Das Ghetto. Rasch blättert er weiter. Seine Skizzen sind ihm Sehhilfe: Wie ragt der Turm auf‘? Wie stehen die Säulen zueinander? Wie sitzt die Figur? Das Wesentliche auffangen in den eigenen Blättern. Nicht dokumentarisch kopieren, aber Stunden kann er vor einem Bild sitzen.
Sein ‘Venezianisches Tagebuch‘ entstand 1999 während eines Arbeitsaufenthaltes in Venedig. Die Leidensgeschichte Jesu in die Erinnerung gehoben, Wort für Wort gedruckt, lateinisch und deutsch, rot und schwarz. Gleichwertig daneben die 21 Blätter ‘ecce homo‘, Zeichnungen des leidenden Menschen immer gleich, immer anders. Umkreisen, suchen, entdecken. Das Herz krampft sich zusammen beim Ansehen, beim Lesen.
Da verstehe ich, warum Peter Marggraf den Weg von den Tonfiguren weg zu den Zeichnungen wählte. Hingabe an den Menschen, die Umkreisung seiner Ver-letzungen und Möglichkeiten. Anteilnahme. Liebe.
Er wünscht sich eine Werkstatt in Venedig.
Begegnungen. Mit anderen Menschen arbeiten.
Die Renaissance fasziniert ihn seit jeher, Tintoretto seit jeher.
Der Tanz, der Todestanz, die Bewegung im Raum. Eine Figur vergeht.
So hat er letztens doch zum ersten Mal einen winzigen Fotoapparat mit nach Venedig genommen und auf dem Friedhof Fotos gemacht von den Fotos Verstorbener auf den Grabsteinen. Verschiedene Stufen ihrer Verwitterung, ihrer Auflösung.
Als ich gehe, legt er seine Hand liebevoll auf den Kopf einer weißen sitzenden Figur neben dem Eingang. „Sie ist die Schutzgöttin unseres Hauses“, sagt er. „Damals habe ich noch mit hellem Ton gearbeitet.“
Als ich über die Autobahn zurückfahre, bekommt der Asphalt die helle Farbe der Göttin und ich fahre sicher zwischen den schwarzen, roten und grünen Lastern nach Hause. Bei der Ausfahrt Salzgitter wird der Asphalt dunkelgrau. Die Farbe vieler seiner Radierungen.
Aber die Radierungen in Kafkas „Verwandelung“ waren von totengrüner Far-bigkeit.
Eine warme Dämmerung hat sich über den Garten gelegt.
Erste schwere Tropfen fallen auf das Blätterdach des Nußbaums, auf die Rosen in ihrem weißen Bogen.
Ich trage meinen Tisch und meinen Stuhl ins Haus. Der Regen ist in ein erlösendes Fließen übergegangen.

 

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