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Im Rippenliniengeflecht

Zu Peter Marggrafs Monotypien „Ein Verrückter und Eine“

 

 
Ein Verrückter und Eine. Eine Leinekassette mit einem Totentanz zu einem Gedicht von Rainer Maria Rilke. 2009. 57 x 43 cm (Privatsammlung)

 

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Mischa von Perger 

Neun Monotypien bilden einen Totentanz, auf jeder erscheint ein Paar aus einem Skelett und einem fleischlichen Menschen. Das Gerippe ist alle neun Mal in Blau gehalten, der Schemen seines Partners tritt zweimal in der gleichen Farbe, siebenmal aber rot auf. Die Figuren sind hauptsächlich in ihren Umrissen gegeben und heben sich so nur leicht von ihrem Umfeld ab, das ebenfalls durch Linien, aber diffuse und meist schwächere, markiert ist. Die Binnenzeichnung ist sparsam, verdichtet sich deutlich nur im Gesicht dessen, der da jeweils mit dem Tod „tanzt“. Dreimal erkennen wir in dieser Person eine Frau am Umriß ihrer Brust, einmal blickt ein stark gefurchtes, männliches Gesicht aus dem Bild, im Übrigen bleibt das Geschlecht unbestimmt, zumal der leibliche Schädel wie der Totenkopf fast immer kahl scheint.
Was tun diese Paare? Hier beugt sich das Skelett über eine Gestalt, die auf der Seite liegt, und faßt sie mit beiden Händen am Oberarm, wie um sie aufzurichten. Dort neigt es sich im Stand leicht nach vorn – nicht schwächlich, sondern monumental und dominant – und kehrt den Rücken seinem ebenfalls stehenden Partner zu, der die Arme hinter dem Kopf verschränkt und ein Bein posierend oder tänzelnd anwinkelt. In Halbfigur drängt es sich eng an oder vor den versonnenen Nebenmann und blickt wie dieser nach links aus dem Bild. In einem Doppelporträt starrt es aus seinen leeren Augenhöhlen auf die hohe Stirn seines Gegenübers, das an ihm vorbei- oder durch es hindurchsieht. Es tritt, wieder in halber Figur, von hinten an die Frau heran und legt ihr den knöchern-durchscheinenden Arm um den Hals und über die Brust. Grinsend lässt es seine Hände auch auf Schulter und Oberarm des muskulösen Mannes ruhen – hier wirkt die Dreiviertelgestalt des Gerippes stark und gerade, der massige Körper neben ihm neigt sich unbeholfen nach vorne. Einmal stehen sich, klein und isoliert, die Büsten von Skelett und leiblichem Menschen gegenüber, jeder ein geheimnisvoller Spiegel und Betrachter des anderen. Nochmals biegt der große Beinerne für die Frau seinen Arm, diesmal, um sie unterzuhaken; halb träumerisch, halb überrascht läßt sie es geschehen. Auch als er sich ein zweites Mal um einen liegenden Partner kümmert, ist es die Frau. Sie hat die Arme weit zur Seite und in die Höhe gestreckt und schaut in Rückenlage den Betrachter an, während das Skelett ihren Kopf in Höhe seines Beckens hält, sie mit einer Hand stützt, die andere mit angewinkeltem Arm vor seine Brust hält (vielleicht, um die dorthin ausgreifende rechte Hand der Frau zu fassen) und seinen Schädel zur Seite wendet, wie um jenseits des Bildes einen Helfer oder Rettungsort zu finden.
Die eine oder andere Geste des Knochenmanns ließe sich so deuten, daß er Mann oder Frau zum Tanz drängt oder geleitet. Doch auf das Tanzen selbst, im oder gegen den Takt, weist kein Bildelement hin. Allenfalls aus einer modernen Tanztheater-Aufführung könnten die Tableaus stammen. Insofern hat Peter Marggraf Rilkes Gedicht „Toten-Tanz“, das ihn zu der Grafikfolge anregte, nicht illustriert. Vielmehr hat er ein Einzelmotiv aus diesem Gedicht herausgenommen und zu einer eigenen Bilderreihe um- und ausformuliert. Einem bekannten Totentanzschema zufolge, das seit dem späten Mittelalter tradiert wird, werden die Sterblichen, angetan und belastet mit den Kostümen und Insignien ihres irdischen Standes und Berufs, der Reihe nach vom nackten oder allenfalls spärlich und spöttisch-nachäfferisch bekleideten Tod heimgesucht und zum Tanz geholt. Nur ein derart Aufgeforderter wird mitunter ebenfalls nackt dargestellt: das Kind, oft an der vorletzten Stelle (vor seiner Mutter) oder ganz am Ende der Reihe, hilflos, ohne Scham und Schuld und gänzlich unprätentiös. So sehen wir es etwa auf dem letzten Holzschnitt des Heidelberger Totentanz-Blockbuchs von 1465. Der Tod hat das Kind am Arm gepackt und weist ihm mit ausgestreckter Hand die Tanzrichtung. Mit anmutiger Schrittsetzung wendet es sich dagegen. Laut dem dazugehörigen, aus der oberdeutschen Tradition stammenden Text muß es das Tanzen, zumal dasjenige mit dem Tod, erst noch lernen. Etwa zwanzig Jahre später brachte der Drucker Heinrich Knoblochtzer den sogenannten mittelrheinischen Totentanztext heraus, ebenfalls mit Holzschnitten versehen. Auch hier begegnet uns das Kind nackt, am Handgelenk vom Tod gepackt, doch steht es steif da und vermag dem zappeligen Knochenmann, der ein Bein spitz angewinkelt in die Luft hält, kaum Folge zu leisten. (Beide Szenen sind leicht zugänglich in „Der tanzende Tod. Mittelalterlich Totentänze“, herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von Gert Kaiser, Insel-Taschenbuch 647, Frankfurt am Main 1983, S. 328 und 158.)
Rilke hat der Aufforderung zum Tanz die Fortsetzung geschrieben und den Schreitaufzug, bei dem sich der energische Tod (oder sein Repräsentant) mit jeweils einem zögerlichen Sterblichen zu Paaren fügt, in einen schweißtreibenden Paartanz-Ball verwandelt. Nicht mehr ergreift allein der Tod die mehr oder weniger Widerstrebenden, sondern auch die Sterbenden fassen ihrerseits den Partner. Der Tanz ist anstrengend, schweißtreibend. So wird ihnen die Nacktheit zum Ideal, da sie größere Ausdauer zu garantieren und es zu erlauben scheint, länger im Takt zu bleiben. Vor Augen gehalten wird ihnen das nicht mehr nur von dem Einen, Kleinsten: Die Nacktheit ist im Gedicht nunmehr das Kennzeichen einer Dreiergruppe. Außer einem Kind sind auch „ein Verrückter“ und „Eine“ – eine Verrückte? – unbekleidet und deshalb vorbildliche Tänzer. Sie sterben, wie es sein soll: unbeschwert, leichtfüßig. Es ist ihr Tanz, ihr eigener Tod, sie sterben ihn angemessen, im Takt. Der Narr gehört im mittelalterlichen und barocken Totentanz wie das Kind üblicherweise ans Ende der Reihe: ein geringgeachteter Mensch. Und doch werden gerade mit Kind und Narr oft „naive“ Einsicht und Wahrhaftigkeit verbunden, Freiheit von Konventionalität, von Verstellung und falschen Rücksichten. Indem er noch die „Eine“ hinzugesellt, schafft Rilke eine potentiell familiäre Gruppe, die beide Geschlechter und das in mancher Hinsicht vorgeschlechtliche Kind umfaßt.
Auf Marggrafs Blättern fehlt das Kind, sie beschränken sich auf das anfänglich-paradiesische Menschenpaar: Mann und Frau. Doch im Totentanz ist es gar kein Paar, sondern beide sind jeweils die Hälfte von insgesamt zwei Paaren. Mann und Frau tanzen nicht miteinander, sondern ein jedes tanzt mit dem Tod. Statt der biblisch besiegelten geschlechtlichen Einheit – „Sie werden EIN Fleisch“ – findet ein jedes eine andere, laut Rilke: die „ächte“ Ergänzung im Knochenmann. Einem jeden seinen eigenen Tod!
Ebenfalls ausgeblendet ist hier die Gesellschaft, das Tanzen „unter Gleichen“, das Sich-Vergleichen und das Sich-Inszeniert-Sehen: Was macht der Tod mit der da, wer wird schon müde, wer schwitzt, wer ist nackt, wer kommt aus dem Takt? Rilke setzt das Moment der Todesinszenierung sogar doppelt ein: Die Sterbenden bilden für sich eine Gruppe, tanzen einen Ball, der sie füreinander „gleich“ macht, präsentieren ihre „Schauben und Hauben und Steine“ einander und dem „Galan“ Tod, und: Sie werden als Gruppe beobachtet und beschrieben, jemand spricht von ihnen in der dritten Person, sie führen für diesen Beobachter eine Szene auf. Diese Dimension, das Sterben als Inszenierung, als Geschehen für mich (den Sterbenden) und die anderen, bleibt bei Marggrafs Blättern geheim. Freilich ist es der Zeichner, der uns, den Betrachtern, diese Totentanzszenen vorzeigt. Und es ist wohl undenkbar, daß er sich selbst da herausgehalten hätte, daß jener „Verrückte“ nichts mit ihm selbst, dem Zeichner, zu tun hätte. Wer könnte eine Figur zum Tod ins Verhältnis setzen, ohne sein eigenes Verhältnis zu demselben ins Spiel zu bringen? Doch der Zeichner erzählt nicht, kommentiert nicht, äußert keinen Sarkasmus und rückt nichts zurecht. Kein Zeigefinger.
Auch die Akteure zeigen uns nichts. Es sind eben „ein Verrückter und Eine“, die wir hier beim Rendez-vous mit dem Knochenmann beobachten. Verrückt und entrückt: ganz mit sich und dem Tanz und womöglich mit dem „Galan“ befaßt, dem Beobachter aber gleichsam nur zufällig, nur durch eine unverhoffte Indiskretion in den Blick geraten.
Die Abstraktheit, die karge Linearität der Gestalten nimmt dieser Indiskretion jedoch alles möglicherweise Peinliche. In diese Linien können wir uns selbst eintragen, müssen es unwillkürlich. Eine Gefangennahme, eine Aufforderung zum Tanz.

 

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