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VERSEHRTE ENGEL

Zu den plastischen Arbeiten von Peter Marggraf

 

 

Beatrix Nobis

 

Das Lächeln spätmittelalterlicher, sogenannter "schöner" Madonnen, mag uns im Zeitalter des groben Minenspiels, der extrovertierten Gesten und Gebärden indifferent, rätselhaft und unverständlich erscheinen. Umso erstaunlicher ist es, daß uns eben dieses Lächeln mit seinen fast unmerklich angehobenen Mundwinkeln in einer Kunst wieder-begegnet, der man keineswegs Historismus oder eine Neigung zur sakralen Traditionsformel nachsagen kann; die Gestalten, denen Peter Marggraf Form verleiht, mögen an lange geübte Techniken der Modellierkunst anknüpfen, sie mögen Erinnerung wecken an den sanften S-Schwung der Marienfiguren des 14. und 15. Jahrhunderts, sich auf den Naturalismus eben dieser Epoche berufen - und sind doch in ihrer Fragmentierung, Zerrissenheit und Versehrung Kinder unseres Zeitalters, Produkte und Zeugen zugleich eines Jahrhunderts der Widersprüche, des Pessimismus und der im höchsten Maße sublimierten Melancholie, wie sie nur dann hervorgebracht wird, wenn sich Muße zur Selbstbetrachtung und elegische Endzeitstimmung miteinander verschwistern können.

Figurative Plastik, dies sei gleich vorweggenommen, steht heute, mehr denn je, im Kreuzfeuer der Kritik. Das Menschenbild, seit Beginn der Moderne, die im eigentlichen Sinne den Beginn der Säkularisierung der Kunst bezeichnet, Symbol des ausgesetzten, sich selbst entfremdeten Ich, scheint alle Stadien der Ausdrucksfähigkeit durchlaufen zu haben. Weit entfernt von Heroisierung und dem Nimbus des göttlichen Ebenbil-
des, weit entfernt auch vom expressionistischen Pathos der "O Mensch!"-Gebärde wirkt heute vieles unter dem Zeichen körperhafter Verdinglichung anektotisch oder, im besten Falle, wie eine späte Replik lange versunkener Ideale. Weltbetrachtung äußert sich im künstlerischen Sinne derzeit oft nur als vorsichtige Annäherung an die schattenhafte Existenz, die der Mensch im Gefüge unseres vom Skeptizismus geprägten Denkens überhaupt noch spielt, oft auch als Anklage, Verdammung und Ausgrenzung seiner zerstörerischen Aktivitäten.

Peter Marggraf setzt diesen Indizien einer ohnmächtigen Selbstauszehrung des menschlichen Ebenbildes zunächst einmal eine solide Handwerklichkeit entgegen. Seine aus Mangan-Ton geformten, nach dem Brand graukörnig stumpfen Köpfe und Torsi, verlangen ein sicheres Gefühl für Tektonik des Materials, das zu unvorhergesehenen Verschiebungen, Brüchen und Rissen neigt. Allein die Wahl des Werkstoffes, der aufbauende, von innen nach außen sich strukturierende Qualität besitzt, läßt die Vermutung zu, daß hier den Gesetzen einer synthetischen, zur kompakten Form voranschreitenden Arbeitsweise gefolgt wird, daß nicht die Entmaterialisierung der künstlerischen Mittel im Vordergrund steht, sondern, im Gegenteil, eine Konkretisierung, die auch vor einer geradezu illusionistischen Wirklichkeitsbeschreibung nicht zurückschreckt.

Den Kern dieser massiven, sicher auf ihrem Rumpf aufsitzenden Halbfiguren bildet in der Regel ein maskenhaftes, mit halb geschlossenen Augen in sich versunkenen Gesicht, dessen Realität der Detailtreue des direkte vom Körper abgeformten Gipsmodells entspringt. Hier - und ebenso in den filigran durchmodellierten Händen - findet der unmittelbare Verweis auf die Lebendigkeit des Individuums statt; ein transitorisches Moment wird hergestellt, das den Übertritt vom Bewegten zur Erstarrung, die Zwischenzone in der Ambivalenz von Vitalität und Leblosigkeit objektiv dokumentiert. Die anatomisch korrekte Darstellung, beseelt mit dem Ausdruck duldender Schutzlosigkeit, verleiht diesen leicht gekrümmten, in archaischer Statuarik streng gebundenen Figuren eine Entrücktheit, wie wir sie von den Zeugnissen längst versunkener Epochen von den mit der Patina des Alters versehenen antiken Bronzen oder den fleckigen, "ausgebluteten" Gebäudefiguren gotischer Kathedealen kennen.

Ein monumentaler Herkules, in Scherben und Fragmenten über einem stützenden Korpus rekonstruiert, läßt sich in einer verblichenen Photographie in Peter Marggrafs Atelier betrachten. Selbst die unzulängliche Aufnahme ist noch in der Lage, etwas von der Aura, der Faszination der Unsterblichkeit zu vermitteln, die uns im Anblick dieses unbesiegbaren Heroen umfängt. Es muß mehr gewesen sein als nur Neugier und archälogisches Interesse, wenn Lorenzo di Medici, der Gönner Michelangelos, nach den vergrabenen Schätzen der Antike forschen ließ. Die Auferweckung der Toten fand statt als man den Apoll von Belvedere ans Licht holte und die Laokoongruppe aus zahllosen Bruchstücken zusammensetzte. Das Erhabene äußert sich keineswegs allein in der Vollendung, sondern in seiner Aussagefähigkeit selbst in der Zerstückelung; wo jedes Fragment das Ganze repräsentiert, da geht es nicht mehr um die Schönheit der Vollkommenheit - die Würde des Alters verbindet sich mit der anrührenden Kraft einer unzerstörbaren Jugendlichkeit. Der Schlüssel zum Geheimnis des Ewiggültigen scheint gefunden, die Tür zum Absoluten aufgestoßen.

Um zu verstehen, warum Peter Marggraf seine Protagonisten einer sanften, kindlichen Dultsamkeit so schroff fragmentiert und ihre suggestiv vorgespielte Ganzheitlichkeit mit klaffenden Ris- sen und Verbänden aus tönernen Lappen und Flicken deformiert, ist es notwendig, seine Zeichnungen heranzuziehen. In diesem Medium scheut er sich nicht, eine Annäherung an das Undarstellbare zu versuchen; flüchtige, im Nirgendwo endende Linien umreißen die Gestalt eines Engels, der nebulös, schemenhaft aus dem Grund herausgelöst ist. Die Beschreibung biblischer Figuren und himmlischer Wesen ist heute ein Wagnis, nur noch denkbar, wenn man sie von ihrer mythologischen "Leibhaftigkeit" befreit und sich eingesteht, daß ihre Konkretisierung vom Bewußtseinszustand in unseren Köpfen abhängig ist. Die ätherischen und doch so realen Flügelwesen eines Fra Angelico können nur deshalb auch heute noch als gültige Sinnbilder des Glaubens gelten, weil wir wissen, daß sie einem frommen, naiv um Anschaulichkeit bemühten Geist entsprungen sind.

So besehen, verkörpern Marggrafs Tonplastiken die Spaltung unseres Zeitalters in eine geradezu beklemmende Bildgläubigkeit auf der einen Seite und den Verlust jeder konkreten Umsetzung der allein gedanklichen Artikulation. Wo uns eine Flut von Allegorien und emblematischen Darstellungen Tag für Tag bis in die trivialsten Bereiche des Konsums und der materiellen Lebensquallität begleitet, da versagt unser Anschauungssensorium. Wenn es darum geht, die Welt des "inneren Auges" sichtbar zu machen. Die Wesen, denen Marggraf Form verleiht, leben aus einer extremen Polarität: Einerseits absichtsvoll mit der Würde einer unbewußten, unreflektierenden Zuständigkeit versehen, bleibt ihnen auf der anderen Seite nur der Weg in die schrittweise Verstümmelung. Während ein glaubensbereites und idealistisches Denken einst mit Eifer nach den Spuren eines göttergleichen Menschenbildes fahndete, versenkt der Künstler seine Werke in einem Akt der Resignation und Skepsis in die Katakomben des Vergessens, überzieht er sie mit dem Leichentuch einer eingestandenen und umso melancholisch stimmenderen Körperlosigkeit, deren Logik sich schlüssig aus dem sukzessiven Abbruch der Wirklichkeit entwickelt.