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ECCE HOMO
Marianne Winter
Inmitten der Ladenzeile die Galerie auf Zeit. Ein
schaufensteroffener, kahler Raum, ungastlich und leergeräumt. Aber mit
bemerkenswerten Exponaten, deren Stille auffällig zum eiligen Getriebe vor
der Tür im Kontrast steht. Es sind Skulpturen und Zeichnungen von Peter
Marggraf. Sie handeln vom Menschen, dem Thema, das so alt und wandlungsfähig
wie die Menschheit ist. Von archaischer Präsenz erscheinen die fast
lebensgroßen Gestalten, zusammengesetzt und modelliert aus manganhaltigem
Ton, dunkel wie die Erde eines fruchtbaren Ackers, Terracotten im
alttestamentarischen Sinne der Genesis. Der Mensch, aus Erde geschaffen, als
erster Freigelassener der Schöpfung durch fehlerhaftes Verhalten vertrieben
aus dem Paradies und der irdischen Unwirtlichkeit ausgeliefert. Die
Grunderfahrung des Menschen ist Lebenskampf. Dieser Prägung spürt Marggraf
nach, modelliert und zeichnet nicht die individuelle Gestalt vielmehr den
Ausdruck derBefindlichkeit, findet ihn in Gestik, im nach innen gewandten
Blick, in Fragmentierung und Verletzung der Form. Schon als Kunststudent zur
Zeit der Hochphase von Tachismus und Abstraktion hat er sich unbeirrt in
sein inhaltlich engagierten Thema hineingearbeitet. Die Krönung der
Schöpfung, die Vollkommenheit, das Edle und Glückliche des Menschseins
bestimmen nicht seine Vorstellung.Kein Kultbild vom strahlenden Sieger,kein
David und Apoll verläßt seine Werkstatt. Er formt den Einzelkämpfer, der für
menschliche Stärken und Lei-densfähigkeit steht. Gestalten aus Mythologie
und Literatur sind dem Belesenen Leitbilder: Prometheus, Sisyphos,Hiob,
Raskolnikow, die sich für eine Idee, für den Mitmenschen opfern.
Letztendlich vereinen sich alle im cha-rismatischen Christus, dem
Märtyrer,Verlierer und Gewinner, Gottessohn und Menschenopfer. Mit ihnen
beginntMarggraf schon während des Model-lierens ein Zwiegespräch, eröffnet
den Dialog mit der Gestaltsetzung durchKonstruktionsaufbau, hier Skelett,
daser mit Tonplatten überzieht und zumMenschen formt. Besondere Sorgfalt
wird dem Gesicht gewidmet. Den Kopfselbst verhüllt eine Bandage, was den
Blick allein auf die Physiognomie lenkt.Nach innen gerichtet sind die
geschlossenen Augen, die Spur eines Lächelns auf den weichen Lippen des
Mundes. Schlafwandlerisch die Mimik, ganz auf sich bezogen, autistisch die
Gestik: Arme und Hände schützen den Kör-per, aufrecht oder gebeugt ist der
Rumpf, einem Schlag ausweichend, ein-mal sogar in der archaischen
Haltungeines Hockergrabes. Dabei fällt dienaturalistische Wiedergabe der
Hände auf. Im Gegensatz zur Stilisierung der Gesichtsformen sind sie
individuelle Abgüsse lebendiger Organe. Überrasch-end geben sie dem stillen
Wesen leibhaftige Präsenz. Leid und Würde, Mit-leiden, Verletzung und Heilen
gibt der Bildhauer und Büchermacher eine Gestalt. Nicht nur in der Plastik,
auch grafisch bestimmt dieses Thema sein Werk. Verstärkt wurde die Aussage
durch Arbeitsaufenthalte in Venedig. Die Fresken Tintorettos hinterließen in
Christusdarstellungen, Passionsgeschichte, Kreuzabnahme einen nachhaltigen
Eindruck, der sich in den Zeichnungen und Radierungen Marggrafs
wiederspiegelt. Mit einfühlsam tastenden Linien umkreist er die
Gestalt,schafft sie als freie, lineare Bildschrift,dem expressiven Klang
nachspürend.Im Gegensatz zu den dominierendendestruktiven Tendenzen des
Menschenbilds in der Gegenwartskunst ist PeterMarggraf der Heilende. Er
verleugnet nicht Verletzungen und Wunden. Fragmente fügt er heilend
zusammen, modelliert sanft die Narben, bandagiert Brüche, pflegt das
Nonfinito. Allein das weiche Material der Tonerde sprichtfür den
vorsichtigen Umgang mit der Schöpfung. Er ist kein Bild-Hauer, der dieForm
aus dem Stein schlägt, sondern ein Vater, der seine Geschöpfe durch
modellierende Hände wachsen läßt. In diesem Sinne behandelt er auch
Zeichnung und Druckgrafik. Nie verletzt er die Maserung des Holzes zum
Drucken. Zum Hochdruck dient stattdessen nachgiebiges Linoleum oder im Falle
des Tiefdrucks die weiche Vernis mou-Technik, wo die Nadel malerische Linien
hinterläßt.
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