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Todesvornehmheit“ und „Seelennot“

Venedig als Bühne eines Totentanzes …
Thomas Manns Novelle in einer bibliophilen Neuausgabe der San Marco Handpresse von Peter Marggraf

 

Dieses Buch wurde im Frühjahr 2014 auf einer Linotype aus der Palatino gesetzt und von Hand gebunden.

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Studie für das Buch "Der Tod in Venedig"
Monotypie
Sammlung Brigitte und Gerhard Hartmann
  Studie für das Buch "Der Tod in Venedig"
Monotypie und Graphit
Sammlung Brigitte und Gerhard Hartmann
     

 

 

Von Gerd Kolter

Venedig, eine sterbende Stadt – heute mehr denn je Realität angesichts des immer häufigeren acqua alta, des dramatischen Einwohnerschwunds, der verfallenden Paläste, der Millionenschar an Touristen. Diese Entwicklung war auch schon zu Thomas Manns Zeiten deutlich und insofern konnte seine am Vorabend des Ersten Weltkriegs erschienene Künstlernovelle keinen besseren Schauplatz für den Untergang seines Helden finden als diese „gesunkene Königin“.
Wer aber glaubt, mit dem „Tod in Venedig“ in der Tasche einen literarischen Stadtführer zu besitzen, der geht fehl – trotz der Nennung allseits bekannter städtebaulicher Namen. Manns Venedig ist von vornherein vor allem Stimmungsraum, wie ihn ähnlich auch schon Rilke schilderte: „Die Stadt, die immer wieder, wo ein Schimmer / von Himmel trifft auf ein Gefühl von Flut, / sich bildet ohne irgendwann zu sein …“ („Venezianischer Morgen“). Bei Thomas Mann bietet sie ein kunstvolles Interieur für ein Leben zum Tode. Sie ist dabei allerdings nicht nur bloße Kulisse, sondern Schauplatz und Akteurin zugleich: Sie verkörpert das „Unvergleichliche, das märchenhaft Abweichende“, sie steht für „eine träumerische Entfremdung, eine Entstellung ins Sonderbare“, aber sie ist auch Brutstätte des todbringenden „Übels“, gezeichnet vom Verfall, von Laster und Verbrechen.
Denkt man an eine bildnerische Darstellung, drängt sich ebenfalls die Ambivalenz auf: auf der einen Seite das Arabeske, das orientalisch Verspielte der Palazzi und Brücken, auf der anderen Seite die Unerbittlichkeit des Todes, die nach Reduziertheit, der kräftigen Linienführung von Holzschnitten verlangt, wie sie etwa schon Hans Holbein d. J. im 16. Jahrhundert für seine imagines mortis vorgesehen hat. Peter Marggraf hat sich vorrangig für das Letztere entschieden, dabei aber versucht, innerhalb der künstlerischen Technik auch eine andere Seite anklingen zu lassen. Die Dominanz des gesättigten Schwarzdrucks verweist schon auf den Bereich des Todes, dagegen erinnern die sich verschlingenden, tief mit dem Metallstift eingegrabenen Linien auch an das Labyrinthische dieser Stadt und damit, wenn man so will, an die erd- und wassergebundene Seite der verspielten Pracht. Und aus den Linien wachsen dann in wenigen, andeutenden Konturen charakteristische Bauwerke heraus: San Marco, Santa Maria della Salute, Ponte di Rialto, Palazzo Ducale, Ca d’Oro.
Der summarische Begriff des „Herauswachsens“ bedarf allerdings der Vertiefung im wahrsten Sinne des Wortes: Denn der Holzschnitt, auch wenn er wie in diesem Fall relativ weiches Pappelholz als Grundlage hat, erfordert nicht nur eine geschickte, sondern auch eine starke künstlerische Hand, die durch verschiedenste Techniken des Schneidens, Ritzens, Drückens und Pressens die beabsichtigte Wirkung hervorbringt. Irritierend mag dabei zunächst erscheinen, daß Marggraf die Figur des Knochenmanns, der auf der Bühne der Lagunenstadt zum Tanz bittet, im Rotdruck erscheinen läßt, aber die Farbe Rot vermittelt nicht nur allgemein die Assoziation großer Gefahr, sie nimmt auch die durchgängige Eigenschaft der roten Haare bei allen Todesfiguren der Novellenhandlung auf.
Denn Thomas Mann schickt schon zu Anfang den Knochenmann als Todesboten aus, der sein Opfer heimsucht, ohne ihm zunächst ganz nahezutreten. Gustav von Aschenbachs Begegnung mit dem Fremden im Englischen Garten, der einige typische Kennzeichen einer solchen Todesfigur aufweist (rothaarig, stumpfnäsig, lange, gebleckte Zähne, hagere Gestalt), besteht nur in einer gegenseitigen Musterung aus der Ferne, und doch genügt der „herrische, kriegerische Blick“ des Fremden, um bei Aschenbach „eine schweifende Unruhe“, ein „jugendlich durstiges Verlangen in die Ferne“ auszulösen. Das Stichwort „jugendlich“ mag dabei zunächst im Zusammenhang mit dem Tod befremdlich erscheinen, ist aber zum Beispiel im Sinnbild des Johannestriebs für ein plötzlich noch einmal gesteigertes sinnliches Verlangen älterer Männer schon lange ein gängiger Topos.
Gustav von Aschenbach wird also sozusagen geholt, begleitet und auf die Bühne seines Untergangs geführt, wobei die Begleiter und Boten durchaus nicht nur eindimensional als bloße Todesfiguren dargestellt werden: So erinnert der Zahlmeister auf dem Schiff nicht nur an den Fährmann Charon, sondern evoziert durch sein Gehabe als „Zirkusdirektor“ auch die groteske Ebene des Totentanzes, die dann durch den „jugendlichen Greis“ ins „Widerliche“ gesteigert wird (man beachte diese und ähnliche, sonst nicht übliche starke Erzählerwertungen!) und gleichzeitig auf Aschenbachs kosmetischen Verjüngungsversuch am Ende verweist. Dagegen nimmt der Gondoliere in seiner herrischen Haltung und mit seiner „brutalen Physiognomie“ neben der Rolle des Charon als Fährmann wieder die Todesfigur des Anfangs auf, während der „Bänkelsänger“ und „Gaukler“ in seiner tückischen Unterwürfigkeit Unterhaltung und Komik in gellendes Hohn-, ja Höllengelächter umschlagen läßt, Brutalität und Schlüpfrigkeit in sich vereint. Er behält aber nicht das letzte Wort in der Novelle, auch wenn er beim Abgang von der Bühne seine komische Maske ablegt und der Gesellschaft die Zunge her-ausstreckt. Denn Aschenbach stirbt nicht im Todesschrecken über dessen groteske Unheimlichkeit – Tadzio ist es, der als „Psychagog“, als Verkörperung des Götterboten Hermes, dem Dichter den Weg ins Jenseits weist, und zwar als „eine höchst abgesonderte und verbindungslose Erscheinung“ vorm „Nebelhaft-Grenzenlosen“. Hatte Thomas Mann noch kurz zuvor die Unwirtlichkeit des Strandes, die „Überlebtheit“ des „verlassenen Lustortes“ betont und den schönen Knaben sich in einen rohen Ringkampf verwickeln lassen, so wird jetzt die Stimmung von aller Erdenschwere gelöst, der Tod als sanfter Übergang ins „Verheißungsvoll-Ungeheure“ dargestellt. Dennoch: Hier, wie immer, behält im Irdischen der Knochenmann die Oberhand, von Peter Marggraf auch dadurch sinnfällig gemacht, daß er ihn im Anhang in mehreren aufeinanderfolgenden Holzschnitten bis zur „Nahaufnahme“ des Schädels fokussiert und dabei auch einmal die zweiseitige Stadtansicht teilweise mit dem roten Tod überdruckt.
Wirft man einen zusammenfassenden Blick auf die Bühnenbilder des Totentanzes, so wird in der Überschau die Ambivalenz der Pracht und „leichten Herrlichkeit“ deutlich: Mit dem Wissen im Hinterkopf, daß die Stadt Zentimeter um Zentimeter im Wasser versinkt, wird sie für den Leser und Betrachter insgesamt zum Sinnbild des Verfalls, gerade auch in all ihrer morbiden Schönheit. Selbst Tadzio, der am Anfang in den Augen von Aschenbach als „vollkommen schön“ erscheint, offenbart in der Nähe Züge des Kränklichen – und damit auch des Lebendigen! –, so sind etwa seine Zähne „ohne den Schmelz der Gesundheit“. Und für den Betrachter gelten ja umso mehr die Anfangszeilen von Platens Gedicht „Tristan“: „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheimgegeben …“. Insofern fügen sich beide in die Doppelbödigkeit Venedigs, deren Schönheit wie alles Schöne nicht überdauern kann: Aus dem Sumpf prächtig erblüht, kann sie doch auch in der „widerlichen Schwüle“ des Scirocco todbringend vergiften – eben „strahlend und fatal“ (Rilke: „Spätherbst in Venedig“).
Die Doppelbödigkeit hat Peter Marggraf auch in der weiteren Gestaltung des Buches umgesetzt: Der in kräftigerem Rot gehaltene Leinenband hat ein schwarzrotes Titelschild erhalten, der Umschlag erneuert den Kontrast in leiseren, rotbraunen Tönen. Um die Kompaktheit des Textes und die Satzverschachtelungen Thomas Manns zu unterstreichen, hat der Künstler einen eng gesetzten Textkorpus mit breiten Stegen gewählt.
Der gesamte Entstehungsprozess, mit allen Vorzeichnungen, Andrucken, einschließlich der Druckstöcke, wurde vom Künstler für die Sammlung Brigitte und Gerhard Hartmann in einer Kassette dokumentiert.