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"WAS MÖGLICH IST"
Über Gerd Kolters Prosaband "Proben. Fragmente" mit einer Radierung
von Peter Marggraf
Kai Bleifuß
Das Papier ist leicht angerauht,
riecht nach herbstlichem Baumstamm und gibt beim Auspacken, statt zu
rascheln, eher ein diskretes Klicken von sich: Wer das neueste
Gemeinschaftswerk von Schriftsteller Gerd Kolter mit dem bildenden Künstler
und Buchbinder Peter Marggraf bestellt, der bekommt ein Päckchen
zugeschickt, bei dem schon der Einwickelbogen von höherer Qualität ist als
die Seiten jedes Romans oder Gedichtbands in einem durchschnittlichen
Wohnzimmerregal. Doch das läßt sich noch steigern. Das Aufschlagen von
„Proben. Fragmente“, so der Titel des Buchs, kann ähnliche Gefühle
hervorrufen wie der Besuch in einem ehrwürdigen Museum. Dickes
elfenbeinfarbenes Bütten mit stark haptischer Textur präsentiert die
Kolterschen Prosaminiaturen wie ein Spalier von Sockeln, auf denen kleine,
aber feine Exponate zur maximalen Geltung kommen. Und am Ende wartet eine
Originalradierung von Peter Marggraf, die auf ihre Weise mit der Literatur
in Dialog zu treten scheint. Zunächst jedoch ist es an uns, Kontakt mit
den Texten aufzunehmen. Wobei schon die ersten zwei Sätze zum Nachdenken
anregen. Dort heißt es: „Die meisten Geschichten, die er schreibt, beginnen
mit ‚Er‘. Dabei spricht er sonst nicht gern von sich.“ Ein Anfang, nach dem
man sofort innehalten will, um die „Fragmente“, die Abschnitte, aus denen
sich das Buch zusammensetzt, durchzuzählen – es sind vierundvierzig – und zu
überprüfen, wie viele davon mit „Er“ beginnen. Immerhin zwölf. Sollte
zwischen dem schreibenden Menschen, der uns da zum Einstieg vorgestellt
wird, und dem Autor der „Proben“ eine Verbindung existieren? Ein bio-
grafischer Bezug ausgerechnet bei Gerd Kolter, der unlängst in einer
Poetikvorlesung die These aufstellte, seine Lyrik sage über ihn als Menschen
nichts aus? Na gut, aber zwölf von vierundvierzig, das gibt noch keine
Mehrheit. Wer ist „er“? So lang man auch weiterliest, ein Name taucht nicht
auf. Und obwohl „er“ tatsächlich in allen Abschnitten eine Rolle spielt,
können wir uns nicht einmal sicher sein, daß der Protagonist des ersten
derselbe ist wie der des zweiten oder siebzehnten. Man ist versucht, die
Fragmente zu einer stimmigen Gesamtheit zu verbinden, so, wie vielleicht
Bertolt Brechts „Geschichten vom Herrn Keuner“, die ja auch durch eine
gemeinsame Zentralfigur zusammengehalten werden. Doch im Grunde könnte der
Lyriker Kolter hier auch einfach das epische Gegenstück zu einem lyrischen
Ich bemüht haben – und wer käme schon auf die Idee, die einzelnen Texte aus
einem Gedichtzyklus in eine kontinuierliche Handlung zu übersetzen, mitsamt
Chronologie und einem Helden, dessen Lebenswegen man folgt? Trotzdem, Prosa
bleibt Prosa: Selbst wenn man mit zig Figuren konfrontiert wäre, man würde
doch immer sofort nach Beziehungen zwischen ihnen, nach Parallelen und
Kontrasten, nach irgendwelchen Verknüpfungspunkten suchen. Was also könnte
Abschnitt eins mit Nummer siebzehn zu schaffen haben? Beinah noch
rätselhafter gibt sich auf den ersten Blick Peter Marggrafs Radierung, die
aus vier minimalistisch ausgearbeiteten, trapezförmig angeordneten
Männerköpfen besteht. Darunter: keine Körper; dazwischen: kein Hintergrund.
Sie weisen starke Ähnlichkeiten auf und sind doch weit davon entfernt,
gleich zu sein. Die Mienen wirken steinern, archaisch – fast drängt sich das
Wort ‚sphinxenhaft‘ auf –; und doch ist die Nuancierung jedes Mal
unterschiedlich. Sind es vier Ansichten derselben Person? Oder bringt es der
Grad der Abstraktion mit sich, daß von vier verschiedenen Menschen am Ende
das übriggeblieben ist, was allgemeingültig erscheint und in gewissem Sinn
unsere ganze Spezies (oder doch zumindest deren männliche Vertreter)
ausmacht? Einen Titel, der bereit wäre, uns Klarheit zu verschaffen, sucht
man vergeblich. Während das Entstehungsjahr – zweitausendneun – nur noch
einmal einen expliziten Hinweis darauf liefert, daß die Grafik nicht als
bloße Illustration der Texte interpretiert werden sollte: Sie ist schon ein
ganzes Stück älter; und beide Elemente des Buchs, das bildnerische wie das
literarische, kreisen gemeinsam um vergleichbare Fragestellungen. Also
schön. Tun wir mal so, nur zur „Probe“, als wäre das „Er“ der Texte immer
identisch. Dann würde vor unserem inneren Auge ein Mann der Worte entstehen,
der in schriftlicher und mündlicher Form, als Autor und Akteur auf einer
Theaterbühne, Geschichten unters Volk bringt; der intensiv beobachtet,
flaniert, Rollen ausprobiert und sich gegenüber einer manchmal invasiven
Umwelt behaupten muss. Ein handelnder Charakter? Ja und nein. Es läßt sich
zwar einiges dazu lesen, was er tut und wie er tickt, aber der Textzyklus
lebt eben auch und gerade von den Lücken, die man optisch immer vor Augen
hat: Das großflächige Weiß (beziehungsweise Elfenbein) der Seiten rund um
die blockhaft gesetzten Prosafragmente findet seine inhaltliche Entsprechung
in dem Vielen, was entweder nur zwischen den Zeilen steht oder gar nicht aus
den gegebenen Informationen hervorgeht. Aus den einzelnen Scherben, die wir
erhalten, läßt sich kein vollständiger Krug, kein rundes Persönlichkeitsbild
zusammensetzen. Um aus dem ‚epischen Er‘ schlüssig zu werden, müssen (oder
dürfen) wir demnach alle zu Co-AutorInnen werden, die das Fehlende mit
eigenen Deutungen, eigenen Erfahrungen, Gedanken und Emotionen füllen. Die
Frage: „Warum also schweigt er?“, mit der einer der Abschnitte schließt, ist
in diesem Sinn als Aufforderung an das Publikum verstehbar, Antworten
weniger vom Text zu erwarten, als vielmehr aus sich selbst zu schöpfen. Doch
je mehr wir uns auf das Spiel einlassen, je mehr von uns wir in den
Protagonisten hineinlegen, desto mehr werden dessen Erlebnisse, Probleme und
kleinen Genüsse auch zu unseren. Und auf einmal scheint „er“ uns fast näher
zu stehen als seinem ursprünglichen Schöpfer. Es ist erstaunlich zu
sehen, wie parallel ein solcher Prozeß der ‚Aneignung‘ auch bei den vier
Gesichtern der Grafik funktioniert. Auch diese konfrontiert uns mit einer
ganz bewußt gesetzten Leere, die es zu füllen gilt – außerhalb und innerhalb
der Kopfformen, die beinah ausschließlich durch Konturlinien definiert sind.
Details, Dreidimensionalität, ja das ganze ‚Leben‘ hinter dem Bildnis, all
das muß gedanklich ergänzt werden, genauso die fehlenden Körper und so etwas
wie eine Gesamtsituation. Man kann viel (erfüllte) Zeit damit verbringen, in
der minimalistischen Mimik die eine oder andere Regung zu erahnen, ein
Lächeln, das im nächsten Moment verschwindet, ein stoisches Erdulden, das
überraschend in Verzweiflung umschlägt; und wenn man auch hier die
Arbeitshypothese aufstellt, daß es sich um ein- und dieselbe Person handelt,
dann müssen zusätzlich noch die vier Varianten in Einklang gebracht werden,
damit sich das Fragmentierte zu einer menschlichen Existenz, vielleicht
unserem Spiegelbild wandelt. Vergleichbar dem Wunder von San Gennaro im Dom
von Neapel, wo dreimal jährlich das trockene, pulverisierte Blut des
Heiligen durch Schwenken in einer Monstranz (oder doch durch
gemeinschaftlichen Glauben?) flüssig wird und sich, zum Segen für die ganze
Stadt, zu einem scheinbar lebenserfüllten Ganzen verbindet. Und was, wenn
man Gerd Kolters Textstücke doch auf verschiedene Figuren bezieht? Immerhin
ist „er“ als Schauspieler im Theater einmal der Schlagende, einmal der
Geschlagene, „tödlich (G)etroffen(e)“; mal ist er auf der Bühne(?), mal
sitzt er im Publikum. Wenn er sich also entsprechend vervielfältigt, dann
wissen wir über den Einzelnen – den Protagonisten einer Szene von oft nur
ein paar Sekunden Laufzeit – umso weniger und müssen umso stärker unsere
Fantasie bemühen. Aus der Eleganz dieser museumshaften Publikation erwächst
so mit der Zeit ein veritabler Sparringspartner, der uns vor immer neue
Herausforderungen stellt, Erwartungen durchbricht und beim Lesen einen
starken persönlichen Einsatz verlangt, aber gerade dadurch auch neue Ideen
anregt, neue gedankliche Verknüpfungen schafft und nebenbei vieles ganz
plastisch durchexerziert, was man in der Literaturwissenschaft nur
theoretisch über die Funktionsweisen des Erzählens und Rezipierens lernt –
von den auszufüllenden Leerstellen über Identifikationseffekte bis hin zum
‚hermeneutischen Zirkel‘ (man gehe mit einem bestimmten Vorverständnis an
einen Text heran, stelle dann fest, daß alles ganz anders ist oder anders
sein könnte, komme dadurch zu einem neuen Verständnis, mit dem man sich
wieder dem Text widmen kann, und ziehe so immer weitere Kreise, bis man
hoffentlich zur literarischen Erleuchtung findet). Eine ähnliche
Herausforderung erlebt auch das epische Er, wohl bei Proben im Theater: „Man
holt für ihn ein Gegenüber und läßt ihre Knie einander berühren. Jedem gibt
man einen Satz ohne Sinn und läßt die beiden allein mit diesen Sätzen, die
sie einander unablässig ins Gesicht sagen müssen, eine halbe Stunde lang, in
allen Tonlagen, die sie kennen.“ – „(O)hne Sinn“, das wird man bei Kolter
indes nicht erleben: In seinen Fragmenten schlägt alles mindestens einen,
wenn nicht mehrere rechte wie linke Hintersinn-Haken, auf die man durch
schnelles Umschalten im Kopf reagieren muß; und während das Experiment im
Theater scheitert (es läßt beim epischen Er nur die Nerven flattern),
liefert das Buch selbst das beste Beispiel, wie man ein solches Hin und Her
in produktive Ideen umsetzen, zur Horizonterweiterung nutzen und natürlich
auch genießen kann. Vier Köpfe, zig Möglichkeiten – während der Lektüre
der Texte multiplizieren sich die Marggrafschen Gesichter weit über ihr
kleines Blatt hinaus; sie wuchern ad infinitum. Und in der Betrachtung der
Druckgrafik mag uns aufgehen, daß die vierundvierzig Prosafragmente zu
Millionen potentieller Romane ausgebaut werden könnten, einfach indem sie
jemand miteinander verbindet: Die Geschichten diverser Schriftsteller mit
bekannten oder auch fiktiven Namen finden sich darin genauso wie Geschichten
über das, was aus bestimmten Schriftstellern nie geworden ist, weil sie
nicht zu einer bestimmten Zeit an bestimmten Orten gelebt haben. Geschichten
rund um Menschen, die sich gegenseitig durch Geschichten erfinden. Die sich
selbst immer neue, teils widersprüchliche Charakterzüge zuschreiben oder gar
unter sensiblen, menschlichen Persönlichkeitsfacetten ihre dunklen Seiten
verbergen. Müssen wir uns auf eine der Optionen festlegen?
Selbstverständlich nicht! Text wie Bild beziehen ihre Faszination daraus,
eine Sammlung schillernder Fragmente zu sein, und es ist kein Zufall, daß
eine der Prosaminiaturen (unter Bezug auf Robert Musil respektive dessen
„Mann ohne Eigenschaften“) ausdrücklich auf die Freiheit der „Möglichkeiten“
abhebt: Ist ein Roman oder detailreich ausgearbeitetes Gemälde wie ein
„unerschütterliche(s) Urteil“, gegen das sich das epische Er (mit Kafka)
verwahrt, so hat die intermediale Kooperation zwischen Gerd Kolter und Peter
Marggraf ein Ergebnis gebracht, das im besten Sinne unverbindlich bleibt.
Das uns nicht an ein So-und-nicht-anders binden will, sondern im Gegenteil
von uns einfordert, offen, verspielt, flexibel zu sein. Schließlich haben
wir es nur mit einer Reihe von „Proben“ für den Ernstfall zu tun – geistigen
Übungen, die uns wappnen gegen alle Eventualitäten, die da kommen mögen, in
der Kunst wie im Leben. Am Ende verlassen wir das Museum der Seiten, steigen
gemächlich die Stufen am Eingangsportal herab und stellen fest, daß es wohl
für beide gilt, für den Literaten und den Grafiker, wenn wir sagen: ER
hat ein kleines Multiversum angelegt, das zwischen zwei Buchdeckeln codiert
ist, sich aber in uns entfaltet.
Kai Bleifuß, geboren 1983. Er studierte Neuere deutsche Literatur,
Politikwissenschaft und Kunstgeschichte. Nach Lehr- bzw. Forschungsaufträgen
an den Universitäten Budweis und London wandte er sich der praktischen
Kulturarbeit zu. Er ist als freier Mitarbeiter für die Kunsthalle Göppingen
tätig. Zuletzt erschien „Träumen im Steilhang. Geschichten in Bildern“, modo
Verlag (2019).
Hier finden Sie das Buch Gerd Kolter.
Proben. Fragmente
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