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„Er suchte nach etwas,
wie nach verlornen Träumen ...“

Georg Büchners „Lenz“ und „Woyzeck“ in Peter Marggrafs Reihe ‚i libri bianchi‘

 

 

 

Gerd Kolter

Georg Büchner – vor zweihundert Jahren ist er geboren, bis heute gilt er als einer der großen Außenseiter der deutschen Literatur. Durch seinen frühen Tod im Alter von nur 23 Jahren blieb seine literarische Produktion auf die Dramen „Dantons Tod“, „Leonce und Lena“ sowie die Erzählung „Lenz“ und das Dramenfragment „Woyzeck“ beschränkt. Vor allem die beiden letzteren Werke stehen in vielen Aspekten so weit außerhalb des zeitgenössischen literarischen Kontextes (Goethe war erst einige Jahre tot!), daß sie über Jahrzehnte kaum wahrgenommen wurden.
Beide Titelfiguren repräsentieren Extreme: der eine, den es unter schrecklichen Kämpfen immer tiefer in den Wahnsinn treibt, der andere ein Dulder, der sich hetzen, von allen mißbrauchen läßt und schließlich den einzigen Menschen tötet, den er liebt. Opfer beide – der eine der Krankheit, der andere von Sadismus und Liebesverrat, und beide doch gänzlich verschieden.
Lenz – nach dem Vorbild des elend zugrunde gegangenen Dichters J. M. R. Lenz, des Zeitgenossen Goethes – wird von Büchner in einer Lebensphase dargestellt, in der die Grundmelancholie mehr und mehr in eine Ich-Spaltung übergeht („es war als sei er doppelt“). Die Empfindsamkeit der Außenwahrnehmung übersteigert sich, extreme Gefühlsspannungen drohen ihn zu zerreißen, zum Äußersten zu treiben. So, d. h. psychoanalytisch, läßt sich Büchners Erzählung als Modellfall einer pathologischen Entwicklung lesen, sozusagen als klinische Studie des Mediziners Büchner – in der Genauigkeit der Beobachtungen historisch weit vorausgreifend. Viel wichtiger aber ist die Sprache, in welcher der Dichter Büchner diese Entwicklung beschreibt: (vor-)expressionistisch vorantreibend in der Gestaltung von Lenz’ Ruhelosigkeit, Landschaften als Stimmungsräume wild auftürmend, dann wieder nachsinnend klar zur Charakterisierung der wenigen Ruhephasen, die der Hauptfigur vergönnt sind.
All das kommt auch in Peter Marggrafs aquarellierten Zeichnungen zum Ausdruck: Im roten, die Linien des weichen Bleistifts breit umschließenden Pinselstrich bleibt die Bedrohung der Anfälle („Zufälle“ heißen sie bezeichnenderweise im Text) immer gegenwärtig. Bricht sie auf, „als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm“, dann treibt es auch die Figurenzeichnung fast aus der Umrahmung heraus. Das Leiden kann aber auch bildlich in der Haltung des Dulders am Kreuz gefaßt werden oder als verzweifelte Flucht in die Umarmung des Freundes: „Er stürzte sich in Oberlins Arme, er klammerte sich an ihn, als wolle er sich in ihm drängen.“ Aber Marggraf zeichnet auch Lenz’ Abwesenheit inmitten dieser Welt, seine Leere, aus der er nicht erlöst wird: „Sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin.“ Lenz erlebt die ihn umgebende Welt als „dicht“ – hier im Sinne von ‚eng‘. P. Marggraf hat den Text dementsprechend kompakt und dicht gesetzt, mit schmalen Seitenrändern und im Fettdruck.
Was treibt uns Leser auch nach fast 175 Jahren immer wieder in diesen „dichten“ Text hinein? Zu allererst wohl Büchners Sprachkunst in der Schilderung von Seelenzuständen mit ihren korrelierenden Landschaftsräumen; bestimmt auch ein Stück weit das Mitleid mit diesem gehetzten Wesen, das man festhalten möchte, bis sich der Körper ausgezittert hat. Spielt nicht auch die kathartische Wirkung eine Rolle, die eigene Ängste vor dem Durcheinandergeraten, vor dem Verrücktwerden im Stellvertreter sich ausleben läßt? Manche Passagen mögen auch Bewunderung auslösen für den Zuwachs an Erlebnisfähigkeit und Sinnesschärfe, die viele Melancholiker auszeichnet, bevor die gesteigerte Wahrnehmung zur Bedrohung wird.
Von jener Sinnesschärfe scheint Woyzeck auf den ersten Blick nichts zu besitzen, nichts gemein zu haben mit dem schlagfertigen Witz eines „Vorläufers“, zumindest was das Rasieren anbetrifft. Dessen Geschichte ist schnell erzählt: Da läßt sich ein Soldat für gutes Geld rasieren, droht aber, bei der geringsten Verletzung den Barbier mit seinem Messer zu töten. Meister und Geselle springen vor Angst davon, dem jungen, unbekümmerten Lehrling gelingt das Kunststück. Und als der Soldat fragt, ob er keine Angst gehabt hätte, versetzt er, er sei mit seinem Rasiermesser auf jeden Fall schneller gewesen, hätte ihm die Gurgel durchgeschnitten und sei davongerannt. So weit J. P. Hebels Kalendergeschichte „Der Barbierjunge von Segringen“ aus dem Jahre 1809, deren Moral schon im ersten Satz die gerechte Weltordnung einfordert bzw. garantiert: „Man muß Gott nicht versuchen, aber auch die Menschen nicht.“
Fast 30 Jahre später scheint nichts mehr in Ordnung: Georg Büchners Woyzeck denkt nicht einmal daran, das Rasiermesser gegen seinen Hauptmann zu erheben, wie sehr ihn dieser auch vorführt. Sein stereotypes „Jawohl, Herr Hauptmann“ suggeriert scheinbar völlige Ergebenheit, auch Nichtverstehen der kasuistischen Wortangeln seines Vorgesetzten. Wäre es aber ganz und gar so, hätten wir als Zuschauer wahrscheinlich nur Mitleid, vielleicht sogar etwas Verachtung für diesen Mann übrig. Aber er ist nicht nur stummes Opfer, weder des Hauptmanns noch des Doktors mit dessen absurden, menschenverachtenden Ex-perimenten. Bringt uns nicht gerade dessen Diagnose – freilich eben nicht in seinem Sinne – auf die Spur, warum wir Woyzeck nicht nur bemitleiden? Er hat ja eine aberratio, wie der Arzt begeistert feststellt, er ist ‚daneben‘, aber nur aus der Perspektive derer, die selbst auf Abwegen sind. „Er denkt zu viel ...“ – die abwertende Bemerkung des Hauptmanns ist gleichzeitig eine abwehrende, weil er nicht wahrhaben will, daß Woyzeck wirklich gegrübelt hat anhand der wenigen Grundlagen, die er greifen konnte und beharrlich zu begreifen versucht hat (meist ist es das Neue Testament) und dadurch jenen überlegen ist, welche ihre Gedanken und Taten aus dem ennui, aus der allgemeinen Langeweile heraus entweder sinnlos kreiseln oder zu Verbrechen werden lassen. Damit macht er nicht nur den Hauptmann „konfus“, sondern erhält sich in der Erniedrigung durch diejenigen, denen er ausgeliefert ist, einen Rest an Würde, der ihm auch durch die bloße körperliche Überlegenheit des Tambourmajors nicht genommen werden kann. Lediglich Maries Liebesverrat treibt ihn in eine Verzweiflung und Aggression, die für ihn keinen anderen Ausweg als die Auslöschung zuläßt, weil sie ihm die einzige Wärme in der ‚hohlen‘ Welt genommen hat.
So sehe ich ihn auch in den Monotypien von Peter Marggraf, die er diesmal an den Text angehängt hat, wodurch der fragmentarische Charakter des kurzen Dramentextes nicht noch weiter aufgesplittert wird. Mit Ausnahme der ersten drei Abbildungen hat der Künstler den weiteren kurze erläuternde Sätze aus dem Stück im Anhang beigegeben.
Wir sehen einen Menschen, der grübelt, bei dem man aber oft auch nicht unterscheiden kann, ob er die Arme zum Nachdenken oder aus Verzweiflung an den Kopf schlägt. Wir sehen den Gehetzten (insofern Lenz vergleichbar), den es auch immer wieder in Wahnvorstellungen und Aberglauben treibt („Alles hohl da unten. Die Freimaurer!“), mit ausgelöst durch die sadistischen Experimente des Doktors. Das bricht nicht so grell aus wie bei Lenz, vieles bleibt eingekapselt („Still, alles still als wär die Welt tot.“). Dementsprechend gibt es auf den Abbildungen keinen breiten, roten Pinselstrich, sondern Schattierungen von Graublau bis Schwarz, die Gestik ist aufs Elementare reduziert. Dazu paßt auch die Abstufung des Schriftbildes: Figurennamen und Regieanweisungen sind in ein lichtes Grau zurückgenommen, die gesprochenen Sätze dominieren in Schwarz, erhalten auch durch den breiten Durchschuß den Raum, den sie zur Entfaltung brauchen.

Einige Jahrzehnte nach Büchner wundert sich ein Mitarbeiter der Arbeiterunfallversicherungsanstalt in Prag über den Fatalismus der Arbeiter, deren Unfälle aufgrund von unzumutbaren Bedingungen er bearbeiten muß: „Statt die Anstalt kurz und klein zu schlagen, kommen sie bitten.“ Er wird solche und ähnliche Erfahrungen als Dichter Franz Kafka in sein Werk hineinnehmen, in dem ein Protagonist „wie ein Hund“ stirbt, die Überreste eines weiteren Fremdgewordenen achtlos zusammengefegt werden. Auch das Woyzeck-Geschichten im Ausgeliefertsein ihrer Nicht-Helden und doch auch neue Kapitel in der literarischen Darstellung einer Welt, die sich schon lange in einer „ungeheuren Unordnung“ (Kleist) befindet ...


Büchners „Lenz“ wurde im Herbst 2012 in einer Auflage von 100 Büchern in der San Marco Handpresse gedruckt und von Hand gebunden. Sie sind numeriert und signiert. Die Originalblätter der vierzehn aquarellierten Zeichnungen (50 x 35 cm) liegen mit vier weiteren Zeichnungen und der Titelgraphik zusammen mit dem Text in einer Ganzleinenmappe. Peter Marggraf hat die Zeichnungen von 2010 bis 2012 zum „Lenz“ gezeichnet und farbig gefaßt.
Büchners „Woyzeck“ wurde im Frühling 2013 in einer Auflage von 100 Büchern in der San Marco Handpresse digital gedruckt und von Hand gebunden. Sie sind numeriert und signiert. Die Originale der zehn Monotypien liegen zusammen mit dem Text in einer Ganzleinenmappe; sie wurden zum „Woyzeck“ 2012/13 gedruckt.
Ein Exemplar der beiden Bände kostet jeweils 25 Euro zuzüglich Versand.

 

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