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Die ersten drei Bücher der Reihe "i libri bianchi"
 

 

 

i libri bianchi

 

Friederike Kohn

In Peter Marggrafs neuer „Weißen Reihe“ sind bislang drei schmale, mit Sorgfalt und Liebe zum Detail produzierte Bändchen erschienen. Es scheint so, als würde der Künstler hier seine Lebensstationen und seine künstlerischen Ausdrucksformen zu etwas verdichten, das man eine Art Eigen-Fremd-Biografie nennen könnte, ein Lebensbuch in mehreren Ausgaben. Das pergamentene Papier des Schmutzeinbandes dient als eine dünne Haut, die das Leichte leichter macht und das Schwere nebliger und unklarer werden lässt.
Für den ersten Band hat der Venedig-Liebhaber Peter Marggraf Lyrik von Rainer Maria Rilke „Spätherbst in Venedig“ ausgewählt und mit eigenen Zeichnungen aus seinen Skizzenbüchern illustriert. Ein Weg, eine Stadt kennenzulernen und zu verstehen ist es, sie zu malen oder zu (be-)schreiben. Auf diese Weise nähert sich ein Künstler einer Stadt an, versucht sie mit eigenen Mitteln zu erfassen, in das eigene Selbst einzufügen, ganz bewußt und ganz intim. Was Rilke schreibend tat, hat Marggraf bildnerisch getan, die vielen Male, die er nach Venedig reiste, um dort künstlerisch zu arbeiten. „San Marco“ ist der Titel des ersten Gedichtes, und „San Marco“ hat Peter Marggraf 1996 seine Handpresse genannt.
Mit schnellem, flüchtigen Bleistiftstrich aus dem Handgelenk erfaßt der Künstler Details von Kirchen und Plätzen, Ausschnitte, Blickpunkte. Das Flüchtige, Neblige der Lagunenstadt, das Erschauern und Rauschen, das Opake, Matte und Aschene, das Rilke in Venedig sah, ist auch in den Zeichnungen zu spüren. Zarte, lichte, dann wieder kräftige, schattige Linien betonen in Rundungen und Bögen die Weichheit der Stadt am Wasser, aber auch ihre Stärke und Macht, ihr Faszinosum für die Künstlerseele. Das Sanfte spiegelt sich ebenfalls im Druckbild der serifenlosen, gerundeten und doch klar sich ausdrückenden Frutiger-Schrift.
In Rilkes Beschreibungen mischen sich Formulierungen, die Venedig in etwas Lebendiges verwandeln. Diese Atembewegungen nimmt auch Peter Marggraf in einer lebendigen Bleistift-Textur auf. Der erste Band der „Weißen Reihe“ aus der San Marco Handpresse läßt die Zärtlichkeit erspüren, mit der sowohl der Zeichner als auch der Dichter Venedig eroberten und von der Stadt sich erobern ließen.
Der zweite Band widmet sich Heinrich Heines „Traumbildern“, die Peter Marggraf mit Zeichnungen, Aquarellen und Frottagen aus seiner Serie „Totentänze“ bebilderte. Im Gegensatz zu der Leichtigkeit, die das Venedig-Büchlein ausstrahlt, wird der Leser hier mit den düsteren Themen des Lebens konfrontiert.
Die Koch-Frakturschrift verweigert sich der heutigen Lesegewohnheit. Hier läßt sich auf die Schnelle kein Überblick gewinnen, jede Strophe sträubt sich davor, zu unbedarft konsumiert zu werden. In diesem Band ruht die Zeit, die man braucht, um ihn ganz zu erfassen. Die auch „Deutsche Schrift“ genannte Koch-Fraktur entstand erst Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie bildet, in der heutigen Zeit verwendet, einen Historismus und vielleicht sogar Patriotismus ab, der, so würden viele sagen, ganz und gar nicht mehr zeitgemäß ist. Aber sie ist auch nicht aus der Zeit Heines. Dieser veröffentlichte seine „Traumbilder“, zehn mehr oder minder lange Gedichte im Paarreim, 1827. Eingebunden waren sie in den Zyklus „Junge Leiden“ im „Buch der Lieder“. Die Gedichte handeln, kurz gesagt, von Liebe, Tod und Teufel. „Mir träumte einst von wildem Liebesglühn“ beginnt die erste Strophe, und dieses Liebesglühen, die Sehnsucht nach einer Braut, einem Liebesversprechen durchzieht die Gedichte wie ein roter Faden. Das lyrische Ich scheint in der Blüte seiner Jahre zu stehen, doch bewegt es sich dicht am Rand, wird verlockt, versucht, getäuscht. Das Reine, Schöne wandelt sich, wird fortgenommen. „Und sprach die schöne Maid ‚Oh, gib mir deine Seligkeit!’“ – das lyrische Ich verspricht sie im Tausch gegen eine Nacht, und sogleich erscheinen die Heerscharen der dunklen Seite und fordern die versprochene Seele ein. Der Tod und das Böse tauchen in vielerlei Gestalt auf. Das schlechte Ende ist vorprogrammiert. Spielleute, Narren, Geister und Edelfrauen bevölkern in mittelalterlicher Manier die Moritaten, die an einem unbestimmten Märchenort handeln. Als Erweiterung fügt Peter Marggraf Zeichnungen, Frottagen und Aquarelle hinzu, die zum Teil Illustrationen für andere literarische Texte, wie z. B. Lyrik von Ingeborg Bachmann, sind. Der Tod begegnet dem Ich in Gestalt eines Skeletts, er ist dem Lebenden dicht zur Seite, nähert sich ihm und nährt sich von ihm, verzehrt den Atemhauch. Ein Vertreiben des Todes ist nicht oder kaum möglich, er hat sich gezeigt und wird nicht weichen, er wartet und nimmt. In dem Erkennen des nahen Todes wird der Mensch gezeichnet, verrückt oder er akzeptiert, wendet sich ihm zu, wie einer Liebenden. „Ich will etwas von dir“, „Du hast etwas für mich“, scheint der Knochenmann zu flüstern, und diese Forderung zieht sich auch durch Heines „Traumbilder“.
Der dritte Band der „Weißen Reihe“ verwendet und verklärt die Themen, die Heine in seinen „Traumbildern“ umtrieben und bezieht sie nun ganz auf das lyrische Ich. Georg Trakls „Traum und Umnachtung“ ist durchdrungen vom expressionistischen Geist. Die lyrische Prosa beschwört schnell wechselnde, eingefärbte Bilder, die sowohl eine Seelenqual wie auch ein problematisches Familienbild ausdrücken. Alles steht in Beziehung zueinander, alles bezieht sich damit auch auf das lyrische Ich und geht von ihm aus. Die Sätze Trakls beben vor Emotion und Selbstmitleid, sie werden nur gehalten durch den hehren Sprachgestus und das atemlose Weitersprechen, das Bild an Bild- und Satz an Satz-Gefüge und die stabilen, beinah gemeißelt wirkenden Lettern der Hanseatic-Schriftart, die Peter Marggraf für diesen Band ausgewählt hat. Der Text, der als biographisch angenommen wird, ist eine Reise durch die emotionale Welt des Lyrikers Trakl, bebildert mit Fotografien von Bronzeskulpturen Marggrafs. Die Skulpturen – Körper, Torsi und Köpfe – scheinen sich selbst aus einem Klumpen Masse zu formen, erschaffen sich selbst, in einem unbewegten Akt. Roh sind sie noch oder wieder, auf den Gesichtern kaum eine Regung, sie ruhen wie Föten oder Tote. Unter einer Fruchthülle, einem Kokon, der die Anstrengung des Erschaffens und die Abdrücke des Schöpfers trägt, entstehen und sind die Körper. Eine Geburt, die gleichzeitig Tod ist, wird abgebildet – eine stille Metamorphose zum Menschen hin oder vom Menschen fort. „Seufzend verging im Schatten des Baums das sanfte Antlitz des Engels“, „... aus purpurnen Masken sahen schweigend sich die leidenden Menschen an“, “ein mondenes Antlitz, steinern ins Leere hinsank ...“. Die Skulpturen Marggrafs brauchen Trakls Zeilen nicht, um ihre Wirkung zu entfalten. Sie ergänzen oder illustrieren sie nicht, sondern führen den Betrachter in eine ganz eigene, private Welt des Geborenwerdens, Sterbens und des Daseins.
In Gestaltung und Inhalt scheinen die schmalen Bändchen der „Weißen Reihe“ Lebensabschnitte und Werk Peter Marggrafs wiederzugeben, obwohl er seiner künstlerischen Handschrift Texte bekannter Autoren hinzufügt. Was dem einen vermessen vorkommen wird, nämlich das eigene Werk mit dem bereits künstlerisch Anerkannten gleichzustellen, zeigt sich demjenigen, der genauer hinsieht, als die Suche Marggrafs nach seinen Lebens- und Werkthemen in der Literatur anderer Epochen. Er sucht sie in Form von Dichtung, also in einer parallelen künstlerischen Ausdrucksform. Die Themen – die Verzauberung durch eine Stadt oder einen Ort, Tod und Liebe – gab es immer schon und wird es immer geben. Peter Marggrafs Werke ergänzen oder interpretieren die ausgewählten Texte nicht, sie stellen eine zweite Sicht – eine andere (zeitliche) Ebene – dar, sie führen die Historie der Lebensthemen weiter. Es ist allgemeiner Konsens, daß keine Kunst ohne ihre Vergangenheit bewertbar ist.

 

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