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Das Dunkel durchdringen
Peter Marggrafs Buch „Er ist barhäuptig, barfüßig“ mit einem Text von Samuel Beckett

 

 

 

 Isabel Kobus

Das neue bibliophile Buch von Peter Marggraf, „Er ist barhäuptig, barfüßig“, macht einen wenig bekannten Prosatext des irischen Dramatikers und Dichters Samuel Beckett zugänglich und präsentiert ihn als bibliophiles Gesamtkunstwerk mit drei Kaltnadelradierungen Marggrafs. Zusätzlich zu den 24 mit dem Faden gebundenen Buchexemplaren hat Marggraf auch fünf aufwendig gestaltete Vorzugsmappen von Hand erstellt – sie enthalten, neben dem Buch, sechs Radierungen (die drei aus dem Buch sowie drei weitere) als Originalgraphiken. Alle Bilder sind von Gedichten des spanischen Mystikers Johannes vom Kreuz (1542-1591) inspiriert. Sie stehen dem Text eigenständig gegenüber und ergänzen ihn um eine neue Bedeutungsdimension – ein Konzept, das Marggraf immer wieder in seinen Büchern verfolgt und weiterentwickelt.
Becketts Text entstammt ursprünglich einem Notizbuch aus den Jahren 1953/54, das auch eine Vorstufe seines berühmten Theaterstücks „Fin de partie“ (Endspiel) enthält. Den unbetitelten Prosatext, der mit den Worten „Il est tête nue ...“ beginnt, hat Beckett ursprünglich auf Französisch geschrieben, dann selbst ins Englische übersetzt und später in einigen Sammlungen veröffentlicht, die als „Foirades“ oder „Fizzles“ betitelt sind. Im Jahr 1978 hat der Suhrkamp-Verlag „Er ist barhäuptig, barfüßig“ in der Sammlung „Um abermals zu enden und anderes Durchgefallenes“ erstmals auf Deutsch publiziert. Die Übersetzung von Elmar Tophoven hat auch Marggraf für sein Buch verwendet.
Beckett beschreibt hier, wie ein namenloser Protagonist durch eine seltsame, abstrakte Landschaft geht, durch von engen Wänden gesäumte Gänge, über Steigungen und Gefälle. Immer wieder muß er sich für Abzweigungen entscheiden, deren Ziel er nicht kennt. Finster ist diese an einer Stelle als „Gewölbe“ bezeichnete Umgebung – das „von Zeit zu Zeit“ einstrahlende Licht vermag der Protagonist nicht wahrzunehmen, weil er nicht geschafft hat, „zu beharren in seinen Bemühungen, das Dunkel zu durchdringen“. Es liegt nahe, das Geschehen als Seelenreise zu deuten, doch zugleich hebt Beckett die Körperlichkeit des Protagonisten hervor: „Er ist barhäuptig, barfüßig, trägt ein Trikot und eine zu kurze, enge Hose, seine Hände haben es ihm immer wieder gesagt und seine Füße, einander abtastend und sich an den Unterschenkeln reibend, längs der Waden und Schienbeine“, heißt es schon im ersten Satz, später wird der Blick auf den „große(n) Kopf“, den „gekrümmten Rücken“, die „Handrücken und Handteller, zuerst steif am Ende der Arme, dann aus nächster Nähe, zitternd“ gelenkt. Mit allen Sinnen nimmt der Namenlose sich und seine Umgebung wahr – er streicht mit den Händen „bisweilen immer wieder über alle Körperteile“, hört die Geräusche „des Körpers auf seinem Weg“ und leckt immer wieder an den feuchten Wänden, die seinen Pfad säumen. Bei aller Gefangenheit und Ziellosigkeit, und obgleich der Kopf „noch etwas schwach“ ist, entsteht aus dem Körper eine Kraft, die stark genug ist, den „Wahnsinn“ abzuhalten.
Marggraf hat Becketts Text auf der Linotype aus der halbfetten Futura (12 Punkt) gesetzt und in Silbergrau auf leichten schwarzen Karton gedruckt. Sowohl der Satz – das untere Drittel jeder Seite ist Leerraum – als auch die Farbgebung und das leicht durchbrochene Schriftbild auf dem rauhen Papier stehen in Bezug zum Inhalt des Textes. Sie veranschaulichen die Fragmentierung des Raums, das vage Hervordringen von Licht in eine umfassende Dunkelheit und die Körperlichkeit als einzige reale Möglichkeit der Wahrnehmung.
Im Kontrast dazu sind die drei Radierungen auf hellem Büttenpapier gedruckt bzw. abgezogen. Sie zeigen die gleiche männliche Figur in verschiedenen Körperhaltungen. Um die Figur ist – innerhalb eines rechteckigen Rahmens – mit wenigen Strichen jeweils ein enger, höhlenartiger Raum gezeichnet. Das erste, in das Buch eingebundene Bild zeigt den Mann sitzend, den Blick wach in die Ferne gerichtet, den Kopf kahl, Hände und Fußspitzen fehlen. Die Zeichnung des Körpers (Muskeln, Rippen, der Schwung der Umrisse) läßt ihn zwar verhärmt, aber dennoch vital erscheinen. Ähnlich ist er in der zweiten Graphik dargestellt, jedoch gehend, die (wieder nicht sichtbaren) Hände über dem Kopf. Im dritten, eingelegten Bild, das den Titel „Dunkle Nacht“ trägt, sind die Hände erstmals sichtbar – der Mann berührt mit der linken Hand seinen rechten Arm –, Haltung und Blick lassen ihn sich gekehrt, vielleicht niedergedrückt erscheinen, die Zeichnung des Körpers ist weniger konkret ausgeführt.
Obwohl Marggraf die Graphiken nicht als Illustrationen zu Becketts Text konzipiert hat, lassen sich Bezüge zu dessen Inhalt herstellen: die Gefangenheit des Mannes im Raum, Isolierung und Enge, die Betonung der Körperlichkeit. Das eingelegte Bild verweist mehr noch als die beiden anderen auf Verinnerlichung und damit das Motiv der Seelenreise. Das Gedicht „Die dunkle Nacht“ des Johannes vom Kreuz, dessen Titel diese Radierung trägt, beschreibt die Reise einer Seele durch die tiefe Nacht – als Sinnbild für den völligen Rückzug in sich selbst – hin zu dem Geliebten als möglichem Sinnbild für Jesus bzw. die Erlösung. Das im Buch nicht enthaltene, aber dennoch in den Bildern indirekt anwesende Gedicht fügt damit Becketts Text und dem Buch eine neue Deutung hinzu: Die Reise durchs Dunkel mag doch ein Ziel haben, auch wenn der Reisende es noch nicht erkennt.
So schafft Marggraf durch das Zusammenwirken von Text(en), Graphiken und der Materialität des Buches einen Sinnkomplex, der dem Leser verschiedene, teilweise aufeinander aufbauende Möglichkeiten der Deutung und des Weiterdenkens eröffnet. Erweitert werden diese Möglichkeiten noch durch die drei zusätzlichen Originalradierungen, die in der Mappe enthalten sind. Sie bilden die gleiche Figur ab. Die mit „Weitergehen“ betitelte Graphik zeigt den Mann, wie er sich in einem Akt der Anstrengung durch engen Raum schiebt; in „Die Erde berühren“ kauert er mit nach unten gerichtetem Blick, der Körper ist nur mit wenigen Strichen angedeutet. Eine weitere Radierung stellt nur seinen Oberkörper dar – der Mann liegt mit nach oben gewandten Augen. Sie trägt den Becketts Text entnommenen Titel „über alle Körperteile streichen“, obwohl die Hände nicht im Bild sind und ein Arm vom Körper fort weist. So stellt sie einen Bezug her zwischen der Körperlichkeit und einem außerhalb des Bildes befindlichen „Jenseits“. Seele und Körper sind eins, Innen und Außen sind getrennt und vereint zugleich. Die mystische Reise der Seele zur Erlösung und die existenzielle Reise des Körpers durch den Irrgarten des Lebens lassen sich als zwei Seiten desselben Vorgangs begreifen.
So eröffnet diese kongeniale Edition neue Interpretationsräume für einen fast vergessenen Text des großen Beckett. Durch die Vielschichtigkeit der Deutungsmöglichkeiten in Text, Graphik und Buchkunst hat Peter Marggraf mit „Er ist barhäuptig, barfüßig“ ein Werk geschaffen, das dem Leser immer wieder neue Möglichkeiten zur Betrachtung und Aus-einandersetzung eröffnet – mit einem existenziellen Thema, und damit auch mit sich selbst.

Mehr Informationen zu dem Buch finden Sie hier