STARTSEITE  AKTUELLES  I  PETER MARGGRAF  I  BILDHAUER UND ZEICHNER  I  SAN MARCO HANDPRESSE  I  VENEDIGPROJEKT  I  I LIBRI BIANCHI   KONTAKT

 

 

Poesie in Blei und Bütten

Eine neue Buchreihe von Peter Marggraf
feiert Dichterinnen und Dichter des 19. Jahrhunderts

 

Von Jens Brookmeyer

 

 

In einer Welt, die zunehmend auf digitale Prozesse, Effizienz und Massenproduktion setzt, wirkt ein handwerklich gefertigtes Buch wie ein Statement: ein bewußter Akt der Entschleunigung, eine Hommage an bleibende Werte. Peter Marggraf, Künstler, Drucker und Verleger, geht mit seiner neuen Buchreihe einen radikalen Weg zurück zu den Ursprüngen der Buchkunst. Seine zehn Bände mit Gedichten aus dem 19. Jahrhundert sind nicht nur literarische Sammlungen, sondern auch technische und künstlerische Meisterwerke. Sie feiern eine Kunst, die heute rar geworden ist: die Kunst des Bleisatzes, des Buchdrucks von Hand, der sorgfältigen Papierwahl und der manuellen Buchbinderei – verbunden mit einer sensiblen, bildkünstlerischen Interpretation der Texte.
Marggrafs Bücher entstehen auf traditionelle Weise: Der Text wird in klassischer Garamond-Schrift, 12 Punkt, auf einer Linotype gesetzt – einer Setzmaschine, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Standardtechnik im hochwertigen Buchdruck gehörte und heute fast nur noch in Museen anzutreffen ist. Anders als moderne digitale Verfahren verlangt der Bleisatz höchste Präzision und Geduld: Jeder Buchstabe wird gegossen, jede Zeile einzeln zusammengestellt. Tippfehler bedeuten das komplette Neusetzen.
Der Druck erfolgt auf einer Handpresse – einer Technik, die seit Gutenberg kaum verändert wurde. Hier geht es nicht um Geschwindigkeit, sondern um höchste Qualität: die tiefe, fühlbare Prägung der Lettern im Papier, die satte, leicht glänzende Schwärze der Druckerschwärze, die absolute Kontrolle über jeden Druckvorgang. Der Drucker wird hier zum Künstler, der jede Seite mit Gefühl und Handwerk gestaltet.
Bedruckt wird kein beliebiges Papier, sondern edelstes Hahnemühle-Büttenpapier mit 150 g/qm, von einer der ältesten Papiermanufakturen Europas. Hahnemühle steht für höchste Beständigkeit, feine Oberflächenstruktur und eine unvergleichliche Haptik – ein Papier, das den Druck nicht nur trägt, sondern selbst Teil des Kunstwerks wird.
Nach dem Druck erfolgt die Buchbindung in klassischer Weise: Fadengeheftet statt geklebt, stabil und langlebig, dabei flexibel im Aufschlagen. Eingebunden sind die Bücher in eine Broschur mit Schutzumschlag in Bugra-Bütten – ein Material, das nicht nur angenehm in der Hand liegt, sondern dem Buch zugleich eine feine, dezente Noblesse verleiht.
Jeder Band erscheint im großzügigen Format von 29,5 × 23 cm – groß genug, um dem Satzbild Raum zu geben, klein genug, um eine intime, persönliche Lesesituation zu schaffen. Die Auflage ist streng limitiert: 18 numerierte und signierte Exemplare, ergänzt durch zwei Künstlerausgaben. Damit wird jedes Exemplar nicht nur zu einem Lesegenuß, sondern zu einem Sammlerstück – Zeugnis einer Druckkunst, die im digitalen Zeitalter fast ausgestorben ist.
Als Krönung enthält jeder Band eine Originalradierung von Peter Marggraf selbst – auf schwerem 300 g/qm Kupferdruckkarton abgezogen, numeriert und signiert. Auch diese Radierungen entstehen in traditionellen Verfahren: Kaltnadel in Kupferplatten gearbeitet und auf einer Tiefdruckpresse gedruckt. Damit wird jedes Buch endgültig zum Unikat, in dem Literatur und Bildkunst eine untrennbare Verbindung eingehen.
Hinter jedem Band verbirgt sich nicht nur ein großer Name der Dichtung, sondern auch eine bewußt gestaltete Symbiose von Literatur, klassischem Buchhandwerk und bildkünstlerischer Reflexion:
Den Auftakt der Reihe macht das Buch "Stimme des Windes", eine Auswahl von Gedichten des spätromantischen Dichters Nikolaus Lenau. In seinen Texten, in denen die Sehnsucht aus jeder Zeile quillt, trifft Marggrafs Radierung auf Lenaus empfindsame Naturbilder.
Joseph von Eichendorff, dessen Band "Die Nachtblume" die Reihe fortsetzt, ist ein Dichter der leisen Sehnsucht und der harmonischen Naturbilder. In seinen Gedichten wird die zarte Traurigkeit eines untergehenden Tages fast greifbar. Ebenso schließt sich Franz Grillparzer mit "Du dunkle Nacht" an – ein Vertreter des Biedermeier, dessen melancholische Dichtung aus einem Leben zwischen Staatsdienst und künstlerischer Isolation erwuchs. Mit "Als mir Dein Lied erklang" wird Clemens Brentano gewürdigt, dessen bewegtes Leben und vielseitiges Werk in der deutschen Romantik herausragt.
Mit Bettina von Arnims "Alle Winde schweigen" und Annette von Droste-Hülshoffs "Und Blüten taumelten" treten zwei herausragende Frauen der Literatur in die Buchreihe. Von Arnim, Dichterin, Sozialreformerin und politische Denkerin, und Droste-Hülshoff, deren Naturlyrik und psychologische Tiefe bis heute berühren, zeigen die Vielfalt weiblicher Stimmen in einer von Männern dominierten Epoche.
Friedrich Nietzsche, in "Die Sonne sinkt", offenbart in seinen Gedichten die dunkle Schönheit eines denkenden Geistes, der seiner Zeit voraus war. Friedrich Hölderlins "Umhüllt vom Abendlicht" wiederum spricht von der Tragik eines Lebens, das in Schönheit und später in geistiger Umnachtung versank. Beide Dichter berühren mit einer existenziellen Tiefe, die durch Marggrafs zarte Radierungen eine neue Resonanz erhält.
Heinrich Heines Band "Es war ein Traum" bringt die spitze Ironie und feine Melancholie des großen Gesellschaftskritikers zum Ausdruck, während Eduard Mörikes "Mondscheingärten" sanfte Naturbilder und poetische Leichtigkeit feiern.
Die außergewöhnliche Sensibilität, mit der Marggraf die Gedichte bildnerisch interpretiert, hat tiefe Wurzeln in seiner künstlerischen Biografie. Seine Karriere begann mit einer intensiven Auseinandersetzung mit der menschlichen Figur. In Plastiken aus Ton, Gips und Bronze schuf er Werke von eindrucksvoller Kraft und Intimität. Besonders seine Zeichnungen, geprägt von minimalistischer, dennoch expressiver Linienführung, machten ihn bekannt: Mit wenigen, präzisen Strichen gelingt es ihm, komplexe Szenen und tiefe Emotionen einzufangen. Diese Reduktion auf das Wesentliche verleiht seinen Arbeiten eine stille, fast meditative Qualität.
Nach seinem Studium der Bildhauerei in Hannover, Hamburg und Braunschweig wandte sich Marggraf nicht nur der Figur zu, sondern auch der urbanen Architektur – insbesondere der faszinierenden Stadtszenerie von Venedig, wo er regelmäßig arbeitet.
Die aktuelle Buchreihe markiert eine erneute Erweiterung seines künstlerischen Spektrums: Mit den in die Bücher integrierten Kaltnadelradierungen nähert sich Marggraf nun intensiv der Landschaft. Die Natur nicht naturalistisch dargestellt, sondern als Spiegel innerer Zustände verstanden. Die Landschaftsbilder, oft skizzenhaft und von großer Leichtigkeit, fangen flüchtige Momente ein und reflektieren die Bewegtheit der menschlichen Wahrnehmung.
Marggraf verbindet in dieser Serie seine zeichnerische Meisterschaft, seine drucktechnische Virtuosität und seine tiefgründige Poesie in einem einzigen, übergreifenden künstlerischen Ansatz: Die handwerkliche Herstellung und die bildnerische Gestaltung verschmelzen zu einem harmonischen Ganzen.
Peter Marggrafs Buchreihe ist in mehrfacher Hinsicht ein künstlerisches Manifest. Sie zeigt, daß in einer Zeit von Schnelllebigkeit und industrieller Vereinheitlichung der Rückgriff auf traditionelle Techniken nicht Rückschritt bedeutet, sondern einen Gewinn an Qualität, Tiefe und Authentizität.
Diese Bücher sind nicht nur schön – sie fühlen sich auch anders an, sie riechen anders, sie leben. Der Bleisatz hinterlässt eine unverwechselbare Prägung im Papier; der Handdruck variiert minimal von Exemplar zu Exemplar, jedes Buch ist ein Individuum. Die Materialien altern würdevoll: Das Büttenpapier wird mit den Jahren noch samtiger, die Farben bleiben stabil, die Fadenheftung garantiert Generationen von Bestand.
Peter Marggraf gelingt es meisterhaft, verschiedene Disziplinen – Typografie, Grafik, Bildhauerei, Zeichnung und Literatur – zu einem einzigen, berührenden Gesamtkunstwerk zu vereinen.
Seine Bücher sind Einladungen zum Innehalten, zum bewußten Sehen, Fühlen und Lesen. Sie sind eine leise, aber eindringliche Hymne auf eine Kulturtechnik, die nicht verloren gehen darf.