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Von Pflanzen und anderen
Menschen
Helwig Brunner
Mit der
Doppelpublikation „Stockrosen/Herbar“, erschienen in der Reihe I libri
bianchi der San Marco Handpresse (Bordenau / Venezia), haben sich der
Dichter Michael Hillen und der Bildende Künstler und Büchermacher Peter
Marggraf auf eine Zusammenarbeit eingelassen, die in ihrem Ergebnis
wesentlich über das hinausgeht, was man etwa als künstlerisch illustrierten
Gedichtband bezeichnen würde. Der erste Blick zeigt uns freilich genau das:
einen bibliophil gestalteten, mit höchster handwerklicher Sorgfalt
hergestellten Band, in dem einander Verse und bildnerische Arbeiten auf
reizvolle Weise begegnen. Doch keinesfalls werden wir damit in die
Komfortzone der gefälligen Betrachtung entlassen. Vielmehr stellen sich
spätestens auf den zweiten Blick unübersehbare, ja beunruhigende Fragen nach
dem Wesen dieser Arbeiten, der Gedichte wie auch der Bilder – und nach der
Art ihrer Beziehung, ihres Zusammenwirkens.
Der Bonner Dichter Michael Hillen, der sich in
seinen bisherigen Gedichtbänden vor allem als hellsichtiger Porträtist des
Menschlichen erwiesen hat, wendet sich hier der Natur zu: dem, was man als
Phänomenologie des Naturgeschehens bezeichnen könnte, im Besonderen der
Phänologie der jahreszeitlichen Abläufe, dem Aufblühen, Reifen und Erlöschen
des Organischen und dem Zugriff, manchmal auch Übergriff des Menschen auf
dieses Geschehen. Doch damit ist es nicht getan, denn jede dieser
Hinwendungen zur Natur umfaßt neben dem Wahrgenommenen zugleich auch den
wahrnehmenden Menschen, der in den Gegebenheiten der Natur oft überraschend
sein eigenes Abbild skizziert findet; die anverwandelnde Betrachtung mit dem
Auge des menschlichen Geistes macht auch die Naturbilder in Hillens Versen
zu Menschenbildern. Das alljährliche Versprechen des Neubeginns und des
Wandels im Immergleichen der Natur begleitet als Konstante die
Selbstbefragung des Dichters im Spannungsfeld seines eigenen Werdens und
Vergehens. Im besten Fall ergibt sich daraus so manche tröstliche Anwendung:
„auf die chronisch entzündete sicht der dinge / ihre heiterkeit träufeln“,
heißt es über eine kleine, wenig auffällige Heilpflanze aus der Volksmedizin
und Homöopathie, den Augentrost, dessen Blüte selbst wie ein helles Äuglein
mit gelbglänzender Pupille dem Betrachter entgegenblinzelt. Die Antithesen
aber sind nicht weit, tröstet die Natur doch bloß, „ist es nicht die eigene
/ und ausgeweidetes / nicht im bild“ (Gedicht „vom trost“), gibt es keine
Gewähr, daß „die kolonie / der tausendschönchen / nicht in jemandes blut
steht“ („im gartenhaus“) und kann man einander umbringen „mit den blüten der
rose“, wie im gleichnamigen Gedicht geschildert.
Hillens Gedichten stellen sich insgesamt sechzehn
Bildpaare Peter Marggrafs zur Seite, von denen jedes einerseits aus dem
fotografierten Herbarblatt einer gepreßten Pflanze, andererseits aus der
aquarellierten Graphitzeichnung eines menschlichen Aktes besteht. Den
Gedichten vorangestellt, macht die titelgebende Stockrose den Anfang, von
der sich leicht in Erfahrung bringen läßt, daß sie keine Rose, sondern ein
meist zweijähriges Malvengewächs ist, das in verschiedenen Zuchtformen als
Zierpflanze in Staudenbeeten und Bauerngärten Verwendung findet und ehemals
auch gewisse Bedeutung als Heil- und Färbepflanze hatte. Doch darum geht es
gar nicht; denn ganz wie in Hillens Versen läuft auch hier die Betrachtung
der Natur, in diesem Fall jeweils einer Pflanze, zielstrebig auf eine
Freilegung des Menschlichen hinaus. So belegen bereits die Herbarblätter in
ihrer Ausführung keine naturwissenschaftliche Intention, sondern vielmehr
das Interesse des Künstlers an der gestaltlichen und farblichen Erscheinung
der Pflanze, die ihrerseits mit dem menschlichen Akt in einer Weise
korrespondiert, als hätte sie ihn, oder vielleicht auch umgekehrt er sie,
von Anfang an in sich getragen. So entfalten Marggrafs Bildpaare ein
stilles, gleichwohl faszinierendes Eigenleben; sie behaupten nichts, führen
dem Betrachter aber Möglichkeiten der Übereinstimmung vor Augen, die sonst
unentdeckt geblieben wären.
Was beide Künstler hier erörtern – jeder mit
seinen Mitteln und doch letztlich in einhelliger künstlerischer Aussage –,
sind zutiefst philosophische und lebenspraktische Fragen. Bringt uns die
Hinwendung zur Natur unseren eigenen Grundlagen und Wesenszügen näher?
Dürfen wir uns als ein Stück weit in das Naturgeschehen eingeschrieben,
darin aufbewahrt betrachten, uns getröstet fühlen von der Tragfähigkeit und
Schönheit ihrer Gesetze und Erscheinungsformen? Oder ist es, wie ein im Buch
enthaltenes Zitat Bertolt Brechts nahelegt, bloß eine Schwärmerei, die uns
angesichts der Unbewohnbarkeit der Städte der Natur in die Arme treibt?
Konstruiert vielleicht unser Geist, sei es betrachtend oder künstlerisch
gestaltend, durch seine eigenen Setzungen eine Natur, die es so gar nicht
gibt und in der wir daher erst recht einsam zurückbleiben? Gewiß, diese
Fragen sind nicht neu, selten aber sind sie im Zusammenwirken zweier
Künstlerpersönlichkeiten so intensiv in Bild und Sprache ausgeleuchtet
worden wie in diesem Band. Und selten ist dabei die Antwort so klar
zugunsten des Menschlichen ausgefallen, das in seiner Verletzlichkeit und
Vergänglichkeit um tieferes Verstehen und um Anbindung an größere
Zusammenhänge ringt. »beim entkernen unlängst / schälte sich / erinnertes
lesen heraus«, heißt es in Hillens Gedicht andalusische schoten, und ein
solches erinnertes Lesen ist es vielleicht auch, das uns einerseits an
Berührungspunkte mit der Natur heranführt, andererseits den gemeinsamen Kern
des Künstlerischen und des Menschlichen in die Hände legt. Beides zeigt sich
in diesem Band in beeindruckender Weise.
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