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Orte und Räume der Christusbegegnung

Der Flügelaltar von Peter Marggraf und Gedanken zu Kunst und Kirche heute

 

 
Kreuz auf San Michele, Venezia

 

Julia Helmke

Ein Flügel-Altar, ein dreiteiliger Altar aus Eisenplatten. In deren Mitte hängt Jesus. Ein Torso in Bronze. Auf den beiden Seitenflügeln werden links eine zwei Personen, die Mutter Jesu, Maria und der Jünger Johannes, und rechts der Auferstandene dargestellt. Der Raum wird mit einbezogen. Zwei Linien, die sich in der Christusfigur in dem Mittelteil des Altars kreuzen, laufen als Linien in roter Kreide an den Wänden des Raumes und treffen sich in einem Kreuzfragment. Dort, wo auf der anderen Seite der dicken Wand ab und an die Eingangstür zum Wohnheim schwingt.
Der Flügel-Altar von Peter Marggraf ist kein Wandelaltar. Die „Alltagsseite“ des Altars ist im zugeklappten Zustand als Altar nicht mehr erkenntlich. Es ist ein Wandschrank. Im aufgeklappten Zustand erhält er mit seinen Scharnieren und dem nach hinten in den Schrank gesetzten Mittelteil eine ausstrahlende Dreidimensionalität, geschlossen fügt er sich unauffällig in die lang gestreckte Schrankwand ein.
Die Bronzefiguren und die gezeichneten Figuren sind im Duktus von Peter Marggraf „unfertig und roh gehalten“. Sie stehen in der Traditionen der italienischen Renaissance, in der es Arbeiten von Künstlern „non finito“ gab und die gerade dadurch die Betrachtenden mit einbeziehen und das Werk zur Weiterentwicklung freigeben.
Soll, kann, darf man Christus in den Wandschrank schließen, wenn der Raum zum abendlichen Karten-Spielen genutzt oder über die Finanzsituation des Wohnheims diskutiert wird? Wem darf welcher Anblick nicht zugemutet werden? Ist Christus denn nicht auch im und durch den Wandschrank präsent? Dies waren einige der Fragen, die bei einem Künstler- und Plenumsgespräch kurz nach Vorstellung des neuen Kunstwerkes geäußert wurden, engagiert und ‚ergebnisoffen’.
Gedanken dazu und ein situativer evangelischer Blick auf das Verhältnis von Kunst und Kirche, der streiflichtartig mit einer historischen Einordnung und Annäherung beginnt:
„Gerade die moderne Gegenwartskunst mit ihren fragmentarischen Komponenten verweist auf die Unvollkommenheit und Zerbrechlichkeit des Lebens, die uns allen eigen ist. Aber auch die Klassik spielt gegenwärtig wieder eine starke Rolle – lenkt sie doch, bei aller Unberechenbarkeit des Lebens, den Blick wieder zurück auf das, was bleibt, was trägt.“ (Dr. Johannes Friedrich, Landesbischof in Bayern und Leitender Bischof der VELKD, 2007)
„Es sind vor allem künstlerische Äußerungen gewesen, die unsere Kultur geprägt, weiterentwickelt und immer wieder auch hinterfragt, reflektiert und herausgefordert haben.“ (Dr. Margot Käßmann, Landesbischöfin in Hannover, Synodenbericht 2007)

Kunst und Kirche – in Raum und Zeit

Die Frage der Möglichkeit von Kunst im Kirchenraum ist eigentlich eine sehr moderne Frage! So schreibt Hans-Werner Dannowski, Nestor und Mentor des Dialoges zwischen der Kirche und den Künsten in der hannoverschen Landeskirche seit den 1980er Jahren und bis heute in seiner Einführung zu der ersten großen zeitgenössischen Kunstausstellung in Hannover „Kunst in Kirchen Raum geben“ (1993).
Denn: Früher hatte Kunst Raum in den Kirchen; die Bedeutung eines Kirchenraumes über sein semiotisches System war die Präzision seiner künstlerischen Definition: Immer bedeutete der Raum etwas, war künstlerische Verdichtung, die begriffen wurde. Und heute? Seine These ist: Die Kirchen bedürfen der Kunst im Sinne einer Neudefinition des Kirchenraumes; denn ohne solche eine Neudefinition bleibt die Begegnung mit dem Kirchenraum ohne eindrückliche Folge, sonst fehlt dem Kirchenraum die Dimension der Infragestellung, der Vertiefung unserer Ahnung von „Gott, für den der Kirchenraum ein unzulängliches Haus, aber doch immerhin ein Hinweis und ein Zeichen ist“
Die Reformation war hier in der Tat ein bedeutsamer Einschnitt. Kirche ist Kirche durch das, was in ihr geschieht. Die Konzentration auf die Verkündigung und das gemeinsame Hören des Wortes Gottes, auf die Feier des Abendmahls als unmittelbares sinnliches Zeichen der Erinnerung, Vergebung und Stärkung ließ den Raum und dessen künstlerische Gestaltung in den Hintergrund treten.
Unredlich wäre es, die gesamte Geschichte des Verhältnisses zwischen Kunst und Kirche auf diese wenigen Zeilen zu reduzieren. Mit einem solchen Einstieg möchte ich, mit gewisser Vergröberung und Verkürzung, im Wissen um einen weiten Horizont einige Haltepunkte für Auge und Geist setzen, die mit dem späteren Blick auf Peter Marggrafs Altar-Kunstwerk in Hannover/Mittelfeld vielleicht hilfreich sind.
Die protestantische Kirche verstand und versteht sich als eine „Kirche des Wortes“. Alles, was mit Bildern – seien es gemalte, auf der Theater- oder Tanzbühne oder in bewegten Bildern auf einem Zelluloidfilm dargestellte zu tun hatte – , wurde von der Kirche über Jahrhunderte hinweg kaum beachtet, kritisch beäugt oder gar verboten.
Martin Luther hat das „Abthun“ der Bilder anders als Bilderstürmer jener Zeit (Ikonoklasmen und starke Bilderverehrung haben die Kirchengeschichte seit jeher begleitet) nicht gefordert; er sah sie vor allem in didaktisch-katechetischer Hinsicht als sinnvoll an. Bilder waren für ihn „Adiaphora“, im Sinne von gleichgültig und ethisch neutral,
Dies hat in einer gewissen künstlerischen Konzentration zu der hohen Blüte evangelischer Kirchenmusik beigetragen, die in ihren bisherigen und in neuen Formen einen herausgehobenen Ort im Michaeliskloster in Hildesheim findet. Es hat zu einer Sprachsensibilität und einem literarischen Können geführt, dessen Nährboden oft in Pfarrhäusern lag – Herder oder Hölderlin sind frühe Beispiele hierfür, die Wiederentdeckung von Paul Gerhardt im Jubiläumsjahr 2007 ein aktuelles Beispiel. Insgesamt ist jedoch auch hier der künstlerische und kulturelle Wert lange zu gering geschätzt, zu wenig gepflegt und der Anschluss an Weiterentwicklungen damit erschwert worden.
Eine theologische Reflektion über das Verhältnis zur Kunst und den Künsten, eine Bild-Theologie hat es insgesamt nicht oder zu wenig gegeben – eine Ausnahme bildet nach der weitgehenden Emanzipation der Künste von der Kirche spätestens im Zeitalter der Aufklärung der Berliner Theologe, Philosoph und Kunstkenner Friedrich D. E. Schleiermacher. Das Lob der geistlichen Nüchternheit und intellektuellen Klarheit führte oft zu einer Angst vor dem Bedeutungsoffenen, einer Scheu vor einem emotionalen Angerührt- bis Ergriffen- oder sogar Überwältigtsein, das gerade die bildlichen und darstellenden Künste auslösen.
Hier hat in den vergangenen Jahrzehnten ein Umdenken eingesetzt. Vorangetrieben wurde dies von Personen, die auf Seite der Theologie wie auf Seiten der Kunst immer den Dialog miteinander gesucht haben, als Grenzgänger wie auch als überzeugte Vertreter ihrer Zunft. Kurz vor der Jahrtausendwende, als klar wurde, wie sehr wir in einer Bilderwelt, in einer medial geprägten Welt leben, ist in den protestantischen Kirchen ein Prozess zu „Kultur und Protestantismus“ in Gang gesetzt worden. Dieser Prozess mündet 2002 in der EKD-Denkschrift mit dem aussagekräftigen Titel „Räume der Begegnung“. Und gerade der Bereich der zeitgenössischen bildenden Kunst wird hier besonders hervorgehoben.
Anerkannt wird darin, dass eine theologische Reflexion und auch der konkrete Dialog mit Kunstschaffenden vielfach vernachlässigt wurden, und hier neue Impulse nötig sind. Mit der Theologin und Literaturwissenschaftlerin Dr. Petra Bahr gibt es seit 2006 eine Kulturbeauftragte für die EKD. Leitlinien und manche Synodenbeschlüsse verankern auf Ebene der Landeskirchen das Thema „Kunst und Kirche“. In ihrem Abschlussbericht hat die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ Ende 2007 den Beitrag der Kirchen als eine der wichtigsten Kräfte ausdrücklich gewürdigt, dies bedeutet eine Ermutigung aber auch eine Herausforderung nach innen wie nach außen – oder wie es Petra Bahr formuliert: Fundament statt Ornament.

Zeitgenössische Altäre und Altarbilder

Wie sieht die Situation in Niedersachsen aus? Einen Fokus möchte ich aus gegebenem Anlass auf den Bereich von Altar und Altarbildern legen und mich hierauf beschränken.
Horst Schwebel, früherer langjähriger Direktor der evangelischen Forschungseinrichtung in Marburg, des „Institutes für Kirchbau und kirchlicher Kunst der Gegenwart“ und einer der profiliertesten Grenzgänger hebt in seinem höchst lesbaren und lesenswerten Grundlagenwerk „Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konfliktes“ (2001) im Abschnitt über das 20. Jahrhundert die Evang.-lutherische Landeskirche Hannovers hervor. Er schreibt von einem neuen „Altarbildprogramm“, das seit den 1990er Jahren durchgeführt wird und eine im Vergleich zu anderen protestantischen Landeskirche große Anzahl zeitgenössischer Altarbilder hat entstehen lassen.
So sind bis heute ca zwanzig Altarbildgestaltungen realisiert und dauerhaft installiert worden. Auch wenn sich dieser Vergleich angesichts Entwicklungen in Süd, West- und Ostdeutschland (als Buchtipp: Markus Zink (Hg), Siehe! Zeitgenössische Kunst in evangelischen Kirchen, Frankfurt 2007) in letzter Zeit wohl etwas relativiert hat: Namen wie u.a. Werner Tübke, Johannes Grützke oder Werner Petzold für Kirchengestaltungen zu gewinnen ließ aufhorchen, eine Hinwendung zur Figuration wurde zu Beginn der 90er Jahre sichtbar und seitdem heftig diskutiert.
Zusammenfassend schreibt er in einem späteren Aufsatz: „Im Unterschied zu anderen Religionen hat das Christentum in seiner westlichen Gestalt nicht allein seine heiligen Texte der historischen Kritik ausgesetzt, sondern hat sich hinsichtlich der Bilder in den Kirchen auf die Kunst der Moderne eingelassen. (…) Wird in einen Kirchenraum ein Kunstwerk aufgenommen, hat man damit deutlich gemacht, dass man um das „Nicht-Sagbare“ weiß. Recht verstanden weiß auch die christliche Verkündigung, dass es über alles Sagen hin aus einen Überschuss, ein Trans, gibt. In den Kunstwerken wird etwas vermittelt, das ohne sie zu vermitteln nicht möglich und durch Worte nicht ersetzbar ist. Die Begegnung der Kirche mit der Gegenwartskunst bedeutet darum auch, am Prozess des Kreativen zu partizipieren.“ (www.kirchbautag.de/alte_seite/onlinetexte/kirchenraumgegenwartskunst.htm)
Eine wahre und dramatische Erschütterung, die sich tief in das Gedächtnis der Landeskirche und weit darüber hinaus eingetragen hat, hat zugleich den Prozess einer Auseinandersetzung und Wahrnehmung für das komplexe Thema von zeitgenössischer Kunst im Kirchenraum neu angestoßen, ja ermöglicht:
Anfang der 1990 Jahre bietet Georg Baselitz der Gemeinde zu Luttrum/Kreis Hildesheim als Geschenk ein Bild als Altarbild an. Das 314x210 cm große Bild, der „Tanz ums Kreuz“, wird bald darauf zu einem Streitfall, der die Gemeinde spaltet. Ein großes Bild für einen kleinen Kirchenraum. Pater Friedhelm Mennekes stellt es 1992 der Gemeinde und einer interessierten Öffentlichkeit vor, in der darauf folgenden Zeit eskaliert die Situation derart, dass eine erhebliche Anzahl von Gemeindegliedern sich umpfarren lässt, es kommt zu persönlichen Angriffen von Befürwortern wie Gegnern des Kunstwerkes, Vorwürfe von Blasphemie und ignoranter Kunstfeindlichkeit wechseln sich ab. Am Ende nimmt der Künstler das Bild wieder zurück, bis heute ist es im Privatbesitz.

Ein offener Prozess

„Der Tanz um das Kreuz“, bewusst wird das Werk im Jahr 2002 zum Titelbild der EKD-Kulturdenkschrift ausgewählt, wird zu einer Lernerfahrung: Breit ist der Graben geworden zwischen der Kirche und der Kunst. Zu lange hat die Kirche versäumt, den Dialog mit den zeitgenössischen Künsten und Künstler/innen zu suchen, zugleich braucht es jedoch auch eine hohe Sensibilität für den jeweiligen (Kirchen-)Raum als geprägten Raum. Es braucht, kurz gesagt, eine Kontextrelevanz und Kontextsensibilität. Es ist ein Weg, der ein Prozess ist im Miteinander – im Miteinander von Kunstschaffenden mit dem jeweiligen Raum, im Miteinander von Kunstschaffenden mit dem Thema Altar-Bild, im Miteinander von Gemeinde und Kunstschaffenden. Dieser Weg, dieser Prozess ist in den letzten Jahrzehnten sehr spannend gewesen und hat zu ganz unterschiedlichen Antworten geführt, seien es die Altarwandgestaltung von Stephan Balkenhol in Wolfsburg, die Altarbilder von Hermann Buß, Altargestaltung von Madeleine Dietz in Bad Bederkesa oder jüngst Gunther Gerlach in Buchholz/Nordheide und hier nun auch Peter Marggraf.
Mit dem Frankfurter Theologen und Kunstsachverständigen Markus Zink teile ich folgende Ansicht: „Die zeitgenössische Kunst steht nun weniger als noch vor zwei Jahrzehnten unter dem Zwang sich selbst zu finden, Stile zu bilden und Maßstäbe zu definieren. Heute ist jede Stilrichtung möglich. Das Werk muss keinen anderen Normen gehorchen, als in sich schlüssig zu sein (…) Damit bieten sich auch die besten Voraussetzungen für den Dialog mit den Künsten. Während noch vor 20 Jahren darüber diskutiert wurde, ob sich autonome Kunst ernsthaft auf religiöse Themen einlassen darf, wird die Frage heute von der Selbstverständlichkeit eingeholt, mit der viele Künstler und Künstlerinnen für die Kirche arbeiten.“ (a.a.O., 11)
Die Symbolik spielt dabei immer noch und wieder eine wichtige Rolle, im kirchlichen Kontext heißt das vor allem: das Kreuz. Und gerade hier gibt es oft Mischformen von plastischer und malerischer Arbeit zu sehen.
Alle bisher genannten Altargestaltungen sind jedoch in historischen Kirchenräumen zu finden bzw. in eigenen sakralen Räumen wie Krankenhauskapellen. Sie sind eingebunden in den Kontext eines Ortes, der eine bestimmte Prägung und Ausrichtung hat und nehmen Bezug auf die vorfindliche Substanz des Raumes und seiner Gestaltung.
Der Altar von Peter Marggraf hat sich vor allem räumlich anderen Herausforderungen und Bezugspunkten zu stellen

Der Raum

Sein Altar befindet sich in einem Raum, der als multifunktionaler Versammlungsraum, Gemeinschaftsraum und Sitzungsraum geplant worden ist. Im Eingangsbereich des Wohnheimes angesiedelt, wirkt dieser mit seiner teilweise verglasten Front hell und einladend und zugleich funktional. Deutlich spürbar ist, dass die Schwelle, die ein Wohnheim für Menschen mit schweren Körperbehinderungen darstellt, das Gefühl einer Abgeschlossenheit, Zurückgezogenheit vermindert und durchlässiger gemacht werden soll. Ein Raum der Stille, Orte für Gebet und gottesdienstliche Feier fehlen bisher im Wohnheim. Der Wunsch nach einem Altar als Minimalausstattung ist vorhanden, jedoch auch die Auflage, dass der Raum pflegeleicht und weiter für gesellige Zusammenkünfte und dienstliche Sitzungen genutzt werden kann und der Altar, und d.h. vor allem das Kreuz, dann nicht „stört“.
Peter Marggraf nimmt die Herausforderung an. Er steht damit in der Tradition des Umgangs und der Schwierigkeiten mit Multifunktionsräumen, die in den 1970er Jahren eine Spielart des evangelischen Kirchbaus prägten, wobei der Denkansatz sich noch einmal unterscheidet. In kirchlichen Multifunktionsräumen sollte bewusst Gottesdienst gefeiert, aber eben auch und zugleich bewusst gespielt, gegessen und gearbeitet werden. In Mittelfeld kommt der gottesdienstliche Aspekt zu anderen bereits praktizierten dazu. „Kirchbau ist Zweckbau. Kirchbau ist nicht Sakralbau, nicht gebaute Liturgie und nicht umbautes Mysterium. Wenn der Ort der versammelten Gemeinde die Welt ist, wird die Unterscheidung zwischen Sakral- und Profanbau hinfällig. Wie an Werk und Person Jesu erkennbar ist, bleibt der Ort Gottes die Welt in ihrer vom Menschen erkannten Wirklichkeit, die sich durch keine sakrale Optik außer Kraft setzen läßt.“ So schreibt es 1971 der spätere Präses der rheinischen Kirche Peter Beier und setzt zwei Jahrzehnte später kritisch dazu: „Ausgeblendet wird die psychologische Komponente des Kirchbaus, die insofern beachtlich bleibt, als Gemeinde sich ja eben nicht (...) in gewöhnlichen Räumen versammeln will, sondern im ‚anderen‘ Raum, nicht in einer anderen Welt, aber im von gewohnten Räumen unterschiedenen Raum.“(in: R. Bürgel (Hg.), Raum und Ritual. Kirchbau und Gottesdienst in theologischer und ästhetischer Sicht, 1995, S. 39-45)Mit einem einfachen und doch ganz wirkungsvollen Mittel verbindet Peter Marggraf den gewohnten Raum mit dem unterschiedenen Raum: Zwei Kreidestriche, die die Seitenwand des Versammlungsraumes markieren und die ausgehen bzw. zusammen laufen in den Kreidestrichen im Zentrum des Altars: In Jesus Christus selbst. Fast verwegen scheinen diese Kreidestriche auf der sauberen Wand und dabei wunderbar alltäglich.
Für mich macht er deutlich: Es gibt nicht die eine klare Trennung zwischen Gott und Welt, zwischen Gottesdienst und Gottes Dienst in der Welt und für die Welt - was „Diakonie“ ja bedeutet in seinem Wortsinn und die Annastift-Gründerin Anna von Borries als Leitspruch proklamierte: „Wir wollen ein Ort sein, an dem sich Nächstenliebe ereignet“. In Jesus Christus kommt Gott und Mensch zusammen, durchkreuzt die Vergänglichkeit die Ewigkeit, das Leben den Tod und die Liebe den Schmerz.

Und das Kreuz…?

Kunsthistorisch trat zu dem Altar, der bereits zur Zeit der frühen Kirche als Tisch des Herrn, als Zeichen der Beständigkeit, Heiligkeit, Ewigkeit dreidimensional den Raum prägte, ab dem Mittelalter das zweidimensionale Bild, als Ausdruck für Anschauung, für individualisierbare Geschichten hinzu.
Peter Marggraf, der Bildhauer und Zeichner, nimmt in seinem Mittelfelder Altar „Es ist vollbracht“ beides auf, ohne die Funktionalität und Nüchternheit des umgebenden Raumes außer Acht zu lassen. Sein Venedigprojekt hat einen Ausgangspunkt ihn den unzähligen Kreuzigungsdarstellungen, Kreuzabnahmen und Grablegungen, die er in der dortigen reichhaltigen Tradition und Schulen der künstlerischer Gestaltung während seiner Aufenthalte dort gesehen hat. Ausschnitte dieser historischen künstlerischen Aussagen tiefen menschlichen Empfindens wurden zum Thema seiner Arbeit und prägen ihn bis heute. Peter Marggraf nimmt traditionelle Formen und Bildprogramme auf, sein Tryptichon ist in dieser Hinsicht klassisch und damit auch verständlich, zugleich steht er in der Tradition der zeitgenössischen Kunst, in deren Werke jeweils die Erfahrung und das Gestaltungsvermögen eines Künstlers ihren Niederschlag finden, mit künstlerischer Freiheit und neuen Ansätzen, die neues Sehen, neue Erfahrungen erschließen wolle, als Mittler des Bleibenden und Gegenwärtigen.
In der Mehrzahl aller Altargestaltungen ist im Altarbereich ein Kreuz oder Kruzifix auf, neben, hinter, über dem Altar allgemein üblich. Sofern man nicht auf ein historisches Kruzifix zurückgriff, stellt sich die Frage, wie ein zeitgemäßes Kruzifix auszusehen habe, in dem sowohl die Menschheit als auch die Gottheit Christi angemessen zum Ausdruck gebracht würde. Horst Schwebel meint dazu: „Während viele Künstler durch Anklänge an den romanischen Christus den Erlösungsaspekt hervorhoben, betonten andere Christi Leiden und Sterben, seine Gottverlassenheit. Künstlerisch sind die Kruzifixe des Leidens gegenüber den Kruzifixen des Sieges Christi über den Tod die stärkeren. (…) Vom Künstler indes zu verlangen, er müsse Kreuz und Auferstehung, Menschheit und Gottheit „theologisch richtig“ in Beziehung bringen, wäre unangemessen. Sie verkennt die Möglichkeiten des visuellen Mediums“, (a.a.O.)
Peter Marggraf formt ein Kreuz, das zart wirkt und fragil, in seiner Bronze fein und, wenn das Licht gut steht und bis in den Wandschrank hineinfällt, glänzend. Das lebendig wirkt und dadurch das Leiden des gemarterten Mannes am Kreuz nicht ausspart. Die Extremitäten sind nicht ausgeführt. Hier steht nicht eine naturgetreue Abbildung im Vordergrund, sondern ein Ausdruck, der die Verletzlichkeit des Evangeliums, der guten Nachricht noch deutlicher macht und erinnert an “Christus hat keine anderen Hände als unsere Hände“, ein Teresa von Avila zugesprochener Satz, der nach manchen Quellen bereits im 3. Jhd. in den Katakomben geschrieben worden ist, und in den 1980er Jahren befreiungstheologisch als Kraft- und Widerstandsquelle gepredigt und gedeutet wurde. „Non finito“ - Das kann heißen: Mein Werk in dieser Welt ist noch nicht zu Ende. Oder: Ich bin noch nicht fertig mit dieser unfertigen Welt. Und die, die „non finito“, nicht perfekt sind, gerade denen bin ich nahe – denn, wer entscheidet über das „finito“ – in dieser Welt und darüber hinaus? Wer stört also wen? Wer wird von wem gestört und was muten wir einander zu?
Jesus Christus im Wandschrank und in einem Multifunktionsraum eines Behinderten-Wohnheimes. Die Räume reichen nicht aus, um einen eigenen gottesdienstlichen Raum zu schaffen. Ich glaube, dieser Christus hält das ganz gut aus. Christus ist auch im Wandschrank präsent. Lieber wäre es mir, wenn wir den Wandschrank öffnen würden. Und offen halten würden. Um der Kraft des Kunstwerkes von Peter Marggraf willen und um der Menschen willen, die die Kraft Christi brauchen und erinnert, gestärkt und provoziert werden von Christus und dieser Christus-Interpretation. Denn auch räumlich glaubet der Mensch.

 

 
Der Flügelaltar im Annastift Hannover. 2008

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