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„Meine Identität ist in der Sehnsucht“
Zur Eröffnung der Ausstellung mit Werken von Peter Marggraf
in der Marktkirche Hannover am 8. Oktober 2014

 

 

Von Hans Werner Dannowski

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre ...“, dichtet Rainer Maria Rilke. Der Dichter greift über die Erfahrungen der Gegenwart hinaus, die mit ihrem lauten Geschwätz, mit der eigenen Unruhe, mit den sich jagenden Events wirkliche Nähe, wirkliche Begegnung verhindern. „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre ...“. Die Seele streckt sich aus nach einem Zustand, der nicht ist, aber von dem ich weiß oder von dem ich ahne, daß er die Erfüllung meines Lebens wäre. „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre ... Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedenken bis an deinen Rand dich denken ...“ Eine utopische Hoffnung scheint das zu sein, das Wesen des anderen Menschen in seiner unendlichen Fülle und Vielfalt zu begreifen. Aber ich lebe davon, daß ich mit dieser Hoffnung unterwegs bin. Von der Erfahrung des Gegenwärtigen hin zu einer Ahnung des Lebens, wie es sein sollte. Ein Leben, um es theologisch auszudrücken, wie es vielleicht Gott gewollt hat. Meine Identität ist in der Sehnsucht. So steht es einfach über dem Werk des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan. So gestaltet es Rainer Maria Rilke, und so erlebe ich es auch.
Es ist, nach meinem Eindruck, das zutiefst Irritierende an den Arbeiten von Peter Marggraf, so wie sie hier in der Marktkirche zu sehen sind: Daß es in ihnen nichts Abgeschlossenes, nichts Endgültiges gibt. Das platonische Ideal, daß die Kunst ein Abbild des Wahren, Guten, Schönen darzustellen habe, scheint für Peter Marggraf nicht zu gelten. Viel eher sehe ich in seinen Arbeiten die romantische Hochschätzung des Fragmentarischen weiterwirken. Die Ruine, der Torso, das Unvollendete wird zur Leitfigur dieser Welterfahrung. Zur Chiffre des Modernen ist das inzwischen geworden. Aber wahrhaft modern wird diese Kunst dadurch, daß das Stückwerk unserer Welterfahrung sich nicht nur auf die Vergangenheit oder die Zukunft, sondern auch auf die Gegenwart bezieht. Wie kann ich meiner Identität sicher sein, wenn Vergangenheit und Zukunft nur zu einer vagen Ahnung werden? „Ich liebe dich! Liebe ich dich wirklich? Ja, bin ich geliebt?“ Wir haben keinen festen Boden unter den Füßen, wenn wir stehen bleiben. Es ist alles immer in Bewegung. Im Leben, und so auch in der Kunst.
Nach meinem Eindruck ist es die Bewegung, die den Kern der Arbeiten von Peter Marggraf ausmacht. Es ist der Spannungsbogen zwischen dem „Nicht-mehr“ und dem „Noch-nicht“. Jeder Mensch, denke ich, will ständig Herr über das widersprüchliche Werden und Vergehen, will Herr über sein Alter, Herr über sein Leben werden. Jede Störung bringt ihn damit weithin aus der Bahn. Aber damit entfernt er sich von der Beweglichkeit des Wirklichen, wird starr und unbeweglich, starrt wie die Maus auf die Schlange, die ihn verschlingen will. Die Abstraktion von der Bewegung führt zum Verlust der wesentlichen Lebenserfahrung, die für mich die Erfahrung der Liebe ist. Das haben wir doch alle immer wieder einmal erlebt: Wenn ich liebe, weiß ich, daß es nichts Festes, nichts Sicheres gibt. Alle Perspektiven verschieben sich, unten ist oben, oben ist unten und alles ist möglich. Jeder Tag ist anders und jeder Tag ist neu. Die Liebe hat eben auch einen erkenntnistheoretischen Wert. Die Gestalten, die die Hände von Peter Marggraf formen, scheinen auf den ersten Blick wie isoliert, wie völlig vereinsamt in den Räumen zu stehen. Aber ich sehe sie unterwegs zu ihrer eigentlichen Bestimmung. Die eine Berührung des Menschen durch die Liebe ist.
Ich vermute, es ist genau dies, was Peter Marggraf an Georg Büchner so fasziniert und in den Monotypien zu dessen Fragment „Woyzeck“ Gestalt gewonnen hat. Büchners Woyzeck ist ein nahezu unvergängliches Beispiel einer hinreißenden Empathie. Dieser „underdog“ Woyzeck, auf dem alle herumtrampeln. Den keiner versteht. Dem das Einzige und Schönste, was er zu besitzen meint, seine Marie, von einem frechen Tambourmajor entwendet wird: In den Bildern, die Peter Marggraf druckt, nimmt seine zunehmende Einsamkeit Gestalt an. „Was muß dieser Mensch gelitten haben!“, hat einer derer, die in Büchners Fußstapfen gearbeitet haben, Gerhart Hauptmann, über eine seiner Titelfiguren gesagt. Die Empathie mit dem Leiden und mit den Leidenden, das ist die Bewegung, in der nichts so bleibt, wie es war. Die mich dazu führt, sogar für einen Mörder Verständnis zu finden. In seinem „Lustspiel“ „Leonce und Lena“ hat es Büchner einmal selbst so ausgedrückt: „Weißt du auch, Valerio, dass selbst der Geringste unter den Menschen so groß ist, daß das Leben noch viel zu kurz ist, um ihn lieben zu können.“ Die Liebe bringt alles in Bewegung, und zu dieser ihrer Erfüllung sehe ich die Gestalten von Peter Marggraf unterwegs.
„Wenn es nur einmal so ganz stille wäre, Wenn das Zufällige und Ungefähre verstummte ...
Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedenken bis an deinen Rand dich denken ...“
Aber warum ist das so, daß der Mensch, daß Sie und ich, nur in der Bewegung, in der Begegnung mit Anderen und Anderem, sich selbst finden wird und das Ziel seines Lebens? Der französische Philosoph Emmanuel Levinas hat am konsequentesten dieses Bewegungs-, dieses Spannungselement des menschlichen Daseins zu durchdringen versucht. Die menschliche Subjektivität, die sich in den Figuren von Peter Marggraf nur vordergründig isoliert, kann sich selbst nie genug sein. In sich selbst verkrümmt, nur mit sich selbst beschäftigt, geht der Mensch an metaphysischer Einsamkeit zugrunde. Dabei kommt es endgültig heraus, daß der Mensch nicht in der Dunkelkammer seiner vier Wände, daß er im Freien und als Dual erschaffen ist. Das Du ist für das Ich konstitutiv. Ich und der Andere, ich und die Andere, ich in der Welt, das ist unser Lebensthema. Der Andere wird zum „Riß im Sein“, hat Levinas einmal gesagt, ist Herausforderung, Verdammung und Glück zugleich. Im Anderen begegne ich den ungelebten, ungeliebten Seiten meines eigenen Wesens. Das Ich ist ein Anderer, der Andere ist mein Ich. Leitbildspiegelung ist die gelebte Praxis eines bewegten Lebens. Du bist ein heimliches Bild meines Lebens. Tägliche Lebenspraxis ist das, in kleiner Münze buchstabiert. Es ist zugleich auch Glaubenspraxis. Denn was ist mein Glaube an Christus Anderes, als daß ich in ihm das sehe, was Gott mir als mein eigenes, erhofftes Bild vor Augen führt?!
Es gibt unter den Arbeiten von Peter Marggraf viele Gestalten, die mich lange bewegen. Eine will ich schildern, dort hinten unter der Orgel steht sie. Eine kleine Figur ist es nur, aber sie birgt alles, was ich als Möglichkeit des Menschseins in mir entdecke. „Stehende weibliche Figur (Eva)“ nennt er sie. Eine stille Gestalt. „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre ...“. Ein Mensch, eine Frau, die ganz in sich gesammelt ist. Der Kopf ist geneigt. Diese Frau hört erst, bevor sie redet. Das Dauergeschwätz der Männer und der Frauen, das die Partys beherrscht, ist weit entfernt. Der Mund ist leicht geöffnet. Vielleicht singt sie, denke ich mir, singt ein Lied aus einer anderen Welt, das sie gerade hört. Nackt tritt diese Frau vor unser Auge. Aber da ist nichts Voyeuristisches. Nichts, was mich reizen könnte, in meiner Phantasie das Geheimnis dieses Menschen zu enthüllen. Die Nacktheit unterstreicht für mein Gefühl sogar ihre Unangreifbarkeit. Sie stürmt nicht davon. Der rechte Fuß ist leicht vorgesetzt. Auf dem Weg zu einem Anderen hin ist sie. Und gerade in ihrer unteren Gestalt wird sichtbar, daß sie keine in sich vollendete Schöpfung als ein isoliertes Wesen ist. Daß sie den Anderen, die Andere zur Vollendung ihres Daseins sucht und braucht. Die „Eva“ ist es eben, die „Chawwa“, die Mutter alles Lebendigen, so wie sie uns in der Schöpfungsgeschichte der Bibel, voller Kraft und Zuwendung, vor Augen gestellt ist. So in sich versammelt, aber zugleich so offen und so begegnungsfreudig tritt in dieser Frau der Mensch an uns heran.
Meine Identität ist in der Sehnsucht. Peter Marggrafs Plastiken und Zeichnungen sind Momentaufnahmen einer menschlichen Wanderschaft. Daß ich mich in ihnen in meiner Unvollkommenheit wiederentdecke, ist das eine. Aber vor allem: Daß sie mich herausfordern im Blick auf das, was noch aussteht, das macht ihre Besonderheit und ihren Rang aus. Der und die Andere, die so ganz, so ganz anders ist, die mich erschreckt, beglückt, ergänzt, verändert: Das alles gehört zu mir. Offen für die Begegnung, offen auch für die Begegnung mit dem ganz Anderen, mit dem Unendlichen: Das gehört wirklich zu mir! Peter Marggraf sei heute, von uns allen, vermute ich, ein dankbarer Gruß gesagt, daß er – sicher oft in stiller, mühevoller Arbeit – uns immer wieder Bilder unserer eigentlichen Wesens, unserer Bestimmung vor Augen stellt!