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"AUF DER SEITE DES TODES WEISS ICH DAS LEBEN"
Hans Georg Bulla
...Ich
selbst - also ich habe angefangen als Bildhauer. Aber ich hatte von Anfang
an große Schwierigkeiten, ein Atelier für meine Sachen zu finden. Ich hatte
soviel Kraft eingesetzt, die ganze Jugend ging drauf, für diese
Riesenfiguren, die ich da aufbaute und die keiner haben wollte, und ich
kriegte sie nirgendwo unter, wußte nicht mehr, wohin damit, und konnte auch
schließlich die horrenden Herstellungs- und Materialkosten nicht mehr
bezahlen und dann habe ich's einfach aufgegeben. Irgendwann war's zuviel.
(...) Ich war innerlich doch zu verletzt, daß ich da keinen Erfolg gehabt
habe. Oder vielleicht auch, weil ich nicht die Kraft hatte, lange genug
durchzuhalten, (...) Vielleicht hätte ich meine Steine nicht so früh
zertrümmern lassen sollen, aber jetzt ist nichts mehr da, und ich kann auch
nicht mehr von vorne anfangen."
Dies
meine Damen und Herren, ist keine Konfession von mir, denn ich bin kein
bildender Künstler, bin es auch nie gewesen - ich bin Schriftsteller. Es ist
auch keine Äußerung des Künstlers Peter Marggraf - denn träfe das Gehörte
auf ihn zu, hätten wir heute nicht das eindrückliche Vergnügen, seinen
Werken in dieser Ausstellung zu begegnen. Diese Sätze entstammen vielmehr
einer Passage aus dem jüngsten Buch von Botho Strauß "Wohnen Dämmern Lügen",
eben erschienen und von der Kritik mehr als nur kontrovers beurteilt:
hochgelobt und entschieden verrissen. Diese Passage also ist der Monolog
eines gescheiterten Bildhauers, ein Stück Rollenprosa, notiert als ob es
Botho Strauß an einer nächtlichen Biertheke mitgeschrieben hätte. Aber in
diesem Thekenmonolog finden sich Sätze, die andeuten, was jemanden in die
Kunst treibt, was jemanden umtreibt, wenn er seine Kunstanstrengungen, aus
welchen Gründen auch immer, aufgegeben hat: "Vielleicht hätte ich meine
Steine nicht so früh zertrümmern lassen sollen, aber jetzt ist nichts mehr
da, und ich kann auch nicht mehr von vorne anfangen. (...) Je länger ich
darüber nachdenke, um so stärker bin ich davon überzeugt, daß ich vielleicht
sogar eine Schuld auf mich geladen habe, indem ich nämlich etwas aus der
Welt geschafft habe, was im Grunde in die Welt gehört, was sie vielleicht
oder sogar dringend benötigen könnte, (...) Tatsache bleibt, daß ich selbst
nicht befugt war, das Zeug wieder aus der Welt zu schaffen. Daß das im
Grunde nur andersherum als bei Prometheus gelaufen ist, aber eben auch ein
schwerer Fehler war. Das ist alles, was mir von der Zeit geblieben ist, ein
übernatürliches Schuldgefühl." Ein "übernatürliches Schuldgefühl" bleibt
diesem gescheiterten Künstler wegen der Aufgabe der Kunst. Nehmen wir das
ernst, dann heißt das, daß die Kunst immer noch ihren Sitz in der Mitte
menschlicher Existenz haben kann oder wieder einzunehmen vermag.
Merkwürdig, daß ich auf diese Sätze von Botho Strauß gestoßen bin, als ich
mich mit Peter Marggrafs Arbeiten für diese Ausstellung auseinanderzusetzen
begann. Aber, wie wir wissen: es gibt keine Zufälle, sondern nur, wie in
diesem Fall, einsichtsfördernde Fügungen. Denn wäre ich aufgefordert, einen
Begriff für die Arbeiten Peter Marggrafs zu finden, so hätte ich,
angestiftet von solcher Konfession, vom tiefen Ernst, von der existentiellen
Ernsthaftigkeit seiner Kunst zu sprechen. Dieser Ernst, diese
Ernsthaftigkeit aber haben zur Folge (wie vertrackterweise gleichfalls zur
Voraussetzung), daß er sich in seiner Kunst mit dem Menschen befaßt, mit dem
Bild des Menschen, mit der Körperlichkeit des Menschen. Dies war sein
Gegenstand von Anfang an, zu Zeiten seines Studiums, als er gegen die
dominierende abstrakt-expressive, informelle Malerei auf seinem figürlichen
Arbeiten beharrte, bis hin zu der jüngst begonnenen Reihe seiner fast
lebensgroßen Passions- und Meditationsfiguren. Das Bild des Menschen
also, so wie er es gestaltet in seinen Plastiken aus holländischem
Mangan-Ton, der schwärzlich ausbrennt, sein Bild des Menschen also ruft oft
Befremden, zögernde Abwehr oder heftige Ablehnung hervor. Das, was an Wunden
und Verletzungen und Verzerrungen, an Brüchen und Rissen und Beschädigungen
dort sichtbar und buchstäblich angreifbar ist, wird verstanden als
zerstörerisch, als destruktives und destruierendes Bild vom Menschen. Und
wird damit mißverstanden. Eine erstaunliche Verkehrung, denn tatsächlich
versucht Peter Marggraf an der Gegenthese zu arbeiten. Im strengen Sinne
ist er kein Bildhauer, er schlägt keine Figuren mit Meißel und Schlegel aus
dem Stein, aus Marmor oder Kalk. Er arbeitet mit den Händen in seinem
Material, er formt sein Werkstoff, seine Figuren werden von ihm aufgebaut.
Nicht er zerstört mit Vorsatz, sondern er findet um sich herum Zerstörtes
vor. Menschheitshoffnungen, Menschheitsgeschichten gleichen eher, allein
wenn wir in diesem Jahrhundert zurückblicken, von den balkanischen
Aktualitäten ganz zu schweigen, Menschheitshoffnung und
Menschheitsgeschichte gleichen eher einem Trümmerfeld, von den groß
gedachten Kathedralen der Utopien blieb kein Stein auf dem anderen.
Da aber sitzt einer vor einem Scherbenhaufen und versucht, trotzig und
unbeirrbar wie ein Archäologe, noch einmal eine Figur zusammenzusetzen,
dieses Abbild, diesen Menschen wieder heil und ganz zu machen. Zwar vermag
er ihm die Hände zurückzugeben oder die vollen Lippen des Mundes oder die
feinen Wimpern an den geschlossenen Augendeckeln - aber er wird nicht
fertig, er kann nicht fertig werden, ein Heilmachen ist hier und jetzt nicht
möglich. Einen ganzen, einen neuen Menschen schaffen zu wollen, das wäre der
gleiche Hochmut, die gleiche Hybris, die zuvor zur Zerstörung geführt haben.
So sehen wir also in den Plastiken von Peter Marggraf das, was er als
einzelner vom Bild des Menschen mit seiner Kunst zu retten vermag. Kein
völlig heilloser Zustand - darin liegt der Trost für uns. Aber es mag sein,
daß dies der Trost eines Sysyphos ist - darin liegt die Herausforderung für
uns. Doch vielleicht kommen wir tatsächlich nicht umhin, uns Sisyphos als
einen glücklichen Menschen vorzustellen.
In dieser Ausstellung ist anderes mehr als diese eindringlichen Plastiken zu
sehen - Gezeichnetes nämlich und Gedrucktes. "Als Bildhauer zeichnend" hat
Peter Marggraf sehr bewußt die Ausstellung überschrieben; zum einen betont
er damit den engen Zusammenhalt beider künstlerischer
Ausdrucksmöglichkeiten, zum anderen hebt er die Eigenständigkeit seiner
zeichnerischen Tätigkeit hervor. In der Tat:Hier sind keine
Bildhauer-Zeichnungen zu sehen, keine Entwürfe, keine Konstruktionen für
etwas, das später in plastischer Dreidimensionalität entstehen soll. Solche
Zeichnungen gibt es zwar auch, als Arbeitsblätter irgendwo abgelegt. Hier
aber sind autonome Zeichnungen zu sehen, allein aus dem Stift
hervorgegangene lineare Gebilde auf einer Fläche. Zwar entstammen sie
derselben künstlerischen Ernsthaftigkeit, aber sie zeigen wortwörtlich eine
andere Handschrift. Was sind die Unterschiede, was ist der untergründige,
dialektische Zusammenhang? Die Plastiken, wie teilweise rekonstruiert
auch immer, wie torsohaft auch, haben Volumen, sind körperhaft präsent. Die
menschliche Gestalten in den Zeichnungen sind dagegen entkörperlicht; der
Umriß wird deutlich gegeben, aber es gibt keine Binnenzeichnung, die mit
Schraffuren, mit Strichlagen welcher Art auch immer, den Eindruck von
Körperlichkeit hervorrufen oder vortäuschen soll. Das Auge wird enttäuscht -
wir müssen mit unserem erworbenen Gestaltwissen die Linien ergänzen und
vervollständigen. Die Plastiken nehmen Raum ein, es umgibt sie, nur spürbar
und sehr verletzlich, eine Aura. Die Figuren in den Zeichnungen sind dagegen
zumeist definiert durch die schwarze Fläche um sie herum; kräftige Linien
verdichten sich, reichen bis an den Rand des Blattes und bestimmen so die
silhouettenhafte Erscheinung. Diese Beobachtung läßt sich ebenfalls bei den
Radierungen anstellen, und nur um weniges modifiziert auch bei den
Linolschnitten. In der schimmernden Schwärzlichkeit des gebrannten
Mangan-Tons sehen wir die Plastiken stehen, während die Figuren auf den
Zeichnungen gespenstisch, fast geisterhaft weiß oder gar wie duldsam helle
Engel in der eingeschwärzten Fläche stehen. Umriß-Zeichnungen, so heißt
es, gehörten zu den ältesten künstlerischen Ausdrucksmitteln, ihnen sei
etwas Archaisches zu eigen, die Formsilhouette sei die erste eindeutige
zeichnerische Tat. Entwickle sich dann die Kunst der Zeichnung, so folge die
Bereicherung mit immer mehr Details, bis hin zur gegenständlichsten,
körperhaftesten, naturnächsten, also auch augentäuschendsten Wiedergabe.
In der Tat: Peter Marggrafs Zeichnungen fehlt diese technische Perfektion -
ganz im Gegensatz zu der handwerklichen Virtuosität seiner Plastiken, die
allein schon deshalb erfordert ist, weil der geformte Ton getrocknet und der
Glut des Brennofens ausgesetzt werden muß. Trotz aller ihm zu Gebote
stehenden Fähigkeiten und Mittel will er kein perfekter Zeichner sein -
haben wir diesen Verzicht auf bravouröse Demonstrationen zu bedauern?
Eine rhetorische Frage, denn die künstlerische Absicht in diesen Zeichnungen
ist eine andere: Das Suchen nach der menschlichen Figur soll sichtbar werden
und sichtbar bleiben, ähnlich wie bei der archäologischen Anstrengung vor
dem Scherbenhaufen. Ein Bild vom Menschen läßt sich für den Künstler heute,
und das ist wieder der Zusammenschluß mit den Plastiken, weder beenden noch
vollenden. So ist jede Zeichnung, jede Radierung "non finito", nicht fertig;
sie weist jeweils nur den erreichten Stand der Recherchen, der
Rekonstruktion vor. Aber nicht als neutrales, interessenloses Dokument,
sondern mit jenem Grad an unmittelbarer Ausdruckskraft, die zu erreichen ihm
bei der jeweiligen Zeichenarbeit möglich war. Keine perfekten,
oberflächlich virtuosen Zeichnungen also, sondern gestisch und spontan; und
keine Illustrationen, thesenhafte Bebilderungen eines abzuarbeitenden
Programms. Illustrationen finden sich auch nicht in den Büchern und Mappen,
die Peter Marggraf mit Sorgfalt selbst anfertigt. Den eigenhändig gesetzten
und gedruckten literarischen Texten stellt er seine Bilder zur Seite -
parallele Angebote in einem anderen Medium, keine gezeichneten Wörterwelten,
sondern die Sprache der Bilder. Was aber bewirkt dieser Verzicht auf
Illustratives? "Eine illustrative Form", hat Francis Bacon festgestellt, zu
dessen Menschenmalerei die Arbeiten von Peter Marggraf von einigen Kritikern
in Beziehung gesetzt worden sind, "eine illustrative Form teilt dem Verstand
unmittelbar mit, worum es bei ihr geht, während eine nicht-illustrative Form
zunächst auf die Empfindung einwirkt und dann langsam auf das Tatsächliche
zurückweist." "Empfindung", sagt Francis Bacon seinerzeit, und nicht
Gefühl. Denn es ging ihm ebenso wenig wie jetzt Peter Marggraf um Gefühle,
um Gefühligkeit oder gar um dekorative Gefälligkeit. Was aber ist dann das
"Tatsächliche", auf das die Kunst Peter Marggrafs zurückweist? Es ist der
einzelne Mensch, hier in der Zeichnung wie in der Plastik, in der Radierung
wie im Linolschnitt. Der einzelne Mensch, seine kontemplative Einsamkeit,
sein Leiden, vor allem aber seine Leidensfähigkeit. Trotz aller Bedrohnung,
Verletztheit und des eigenen Gebeugtseins wird eine stille, eine innere
Kraft in jedem Antlitz, in jeder Figur sichtbar. Unheroisch, unpathetisch,
jedoch in der Eindringlichkeit des Mit-Empfindens durch den Künstler.
Solche Empfindung, solche Tatsächlichkeit sucht Peter Marggraf auch in der
Literatur zu entdecken. Und in letzter Zeit findet er sie vor allem in den
Gedichten der Ingeborg Bachmann. In ihren "Liedern auf der Flucht" liest er
eine Zeile wie diese: "Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen, /
die Zeit und die Zeit danach. / Wir haben keinen." Und er liest eine Zeile
wie diese: "Erlöse mich! Ich kann nicht länger sterben." Aus großen,
hölzernen Buchstaben setzt er die Zeilen dieser "Lieder", macht Frottagen
davon, große, schwarze Bleistift-Flächen, in den der Text noch soeben lesbar
aufscheint, fügt Zeichnungen hinzu - eine einzigartige Mappe ist entstanden.
Hier sehen wir diese Blätter gerahmt und gehängt an den Wänden. Neben den
Skulpturen, den Zeichnungen, wie etwas der großen "Grablegung" nach Jacopo
da Pontormo, einem der frühen Manieristen, ist diese Mappe zu den "Liedern
auf der Flucht" für mich so etwas wie ein geheimes Kraftfeld dieser
Ausstellung - nicht zuletzt, weil augenscheinlich aus einer großen
Anstrengung hervorgegangen. Aber es sind der Mappen und Bücher mehr hier
zu sehen, darunter Reisebücher aus Venedig, aus der Serenissima, der Stadt
der Städte. Doch Peter Marggraf ist nicht an dem vieldeutigen Augenreiz des
zögerlichen, doch immer deutlicheren Verfalls interessiert und an der
Geschäftigkeit des venezianischen Wirklichkeitstheaters in dieser Kulisse -
er zieht sich zurück auf den Campus des Ghetto Nuovo, der sein
Lieblingsplatz im großen Angebot Venedigs ist wie übrigens auch der meine.
Und er zeichnet ihn - er macht ihn eben kenntlich, doch dann verhüllt er
lieber diesen Ort mit dichten Strichlagen, er verhüllt ihn lieber, als daß
er ihn dem touristischen Blick ausliefert. Und ähnlich nähert er sich auch
der Piazetta von S. Marco und anderen vertrauten oder verschwiegenen Stellen
Venedigs - keine romantischen Veduten entstehen jedoch dort, sondern ein
schmutziges Rot-Braun herrscht neben dem oft verriebenen Grau des Graphits
in diesen Skizzen vor. Das jüngste Buch Peter Marggrafs aber, erst im
August fertig geworden und in kleinster Auflage von ihm selbst auf der
Presse gedruckt, enthält erneut Gedichte von Ingeborg Bachmann - aus jener
Sammlung, mit der sie berühmt wurde:"Die gestundete Zeit". Sechs
Linolschnitte begleiten diese auf Pergament gedruckten Gedichte, sie sind
ihnen unterlegt. Auf eine schwarze Fläche hat Peter Marggraf die Schnitte in
weißer Farbe gedruckt - entstanden sind so Grafiken von großer
Verhaltenheit, wie entmaterialisiert und keinesfalls der landläufig groben
Vorstellung vom Linolschnitt folgend, sondern bläulich schimmernd wie
manchmal auch die Plastiken, Hier in den Vitrinen sind die Bogen dieses
Buches ausgebreitet. Im letzten der von Peter Marggraf ausgewählten
Gedichten dieser unprätentiösen, weil von diskreter und nobler Zurückhaltung
geprägten bibliophilen Edition heißt es: "... in der Schönheit der Erde /
und deiner Augen, die den Himmel verwalten, / weiß ich nur Dunkles zu sagen.
//...// Aber wie Orpheus weiß ich / auf der Seite des Todes das Leben, / und
mir blaut / dein für immer geschlossenes Aug." Mir kommt es so vor, als
könnte diese Zeile mit all ihrer dunklen Poesie den Ernst und die
Ernsthaftigkeit der Kunst von Peter Marggraf bezeichnen: "Aber wie Orpheus
weiß ich / auf der Seite des Todes des Leben..."
Rede zur Eröffnung von Peter Marggrafs
Ausstellung "Als Bildhauer zeichnend" in der Niedersächsischen
Landesbibliothek in Hannover
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