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La mia Venezia non sprofonda
„Mein Venedig
versinkt nicht“
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Kreuzgang San Stephano, Venezia |
Hans Georg Bulla
Steigen Sie mit mir in eine Gondel und sagen mir,
wie sehr Ihnen der Anblick von der Mitte der Lagune aus gefällt. Da ist der
Markusplatz auf der einen Seite; viele Leute sieht man, und die Kapelle von
50 Soldaten spielt Walzer für sie. Jemand schiebt sich durch die Menge,
recht unwillig und gegen den Strom, schwarz gekleidet ist er, eine Mappe
unter dem Arm, einen Skizzenblock. Keinen Blick hat er für das Café Florian.
Am Ende des Markusplatzes sehen Sie San Marco. Am
Eingang werden Sie einen Mann finden, der Puppen und Spielzeug verkauft, und
einen anderen, der Wachskrippen mit der Heiligen Familie und zwei Schäfern,
zwei Affen und den Heiligen Drei Königen feilhält. Gehen Sie hinein, und Sie
hören Gefiedel und Trompeten, Sie sehen brennende Kerzen, und da ist eine
Frau, die in der Ecke vor einer schwarzen, mit einem Seidengewand und einem
großen Fächer ausgerüsteten Statue betet. Beobachtet werden beide, Statue
und betende Frau von jenem Schwarzhaarigen; Künstler ist er, da können wir
uns schon sicher sein. Er fixiert sie, aber Stift und Papier läßt er an
ihrem Platz. Er geht hinaus, auf die Piazetta, wo die beiden Säulen stehen,
die des Hl. Theodor und die mit dem Markuslöwen. Bei der bleibt er stehen,
äugt hoch zu jenem Tier, halbe Chimäre noch, gegen das Licht des
Lagunenhimmels. Er vermeidet es, wie jeder Venezianer, zwischen den beiden
Säulen hindurch zu gehen, San Marco und San Todaro, stand dort doch in
vergangenen Zeiten das Podest für die Hinrichtungen, jetzt taucht er im
Strom der Menschen auf der Riva degli Schiavoni unter, wir verlieren ihn aus
den Augen.
Lassen Sie uns ein wenig weiter rudern, und schon
befinden wir uns zwischen zwei Reihen von Palästen. Gegenüber steht ein
vornehmer Palast, heute ein Hotel oder besser: früher ein Hotel, denn außer
einem verhungernden Lakaien lebt da niemand mehr. Der nächste Palast ist zu
vermieten; aber der einzige Diener, der dort aushält, liegt im Bett – es ist
elf Uhr –, und Sie müssen wieder kommen. Der nächste Palast sieht aus wie
eine Ruine, wurde aber nie fertig gebaut: Die Familie bekam ihre Tür und ihr
Wappen darüber, gab dann alles auf, und die Tür wurde nie wieder geöffnet.
Hier aber ist endlich einer, der frisch gestrichen ist, ein alter Pallazzo,
aber gut getüncht, das ist in Ordnung, würden Sie sagen – er gehört einer
Opernsängerin. Die vermietet Zimmer, ein Atelier, wenn sie auf Tournee geht.
Und im Atelier sehen wir den Künstler hocken, unverkennbar sein schwarzer
Nietzsche-Schnäuzer, in den Händen Wachs, Bienenwachs. Er knetet es warm,
eine Figur in körperlicher Verzerrtheit entsteht – als stamme sie aus einem
Gemälde Tintorettos, einer Kreuzabnahme vielleicht. Hat nicht auch
Tintoretto Figuren modelliert, sie in einer kleinen Guck-Kasten-Bühne
manieristisch arrangiert, mit der Beleuchtung experimentiert, um seine
Komposition, die dann zu malende Licht- und Schattenführung zu inszenieren?
Vor Tintorettos Bildern hat der Künstler wohl
lange gestanden, gesessen. meditiert; wir hätten ihn in der Scuola di San
Rocco sehen können. Jetzt greift er hier zu Stift und Papier, um das, was er
mitgenommen hat mit den Augen, mit Sinnen und Geist, im intensiven Empfinden
für sich festzuhalten. Kein augentäuschender Realismus, der sich da auf dem
Blatt in der Nah- aufnahme entfaltet, eher Zeichen der Versicherung von
Wahrgenommenem, von Angeeig- netem. Hätten wir den Zeichner angetroffen auf
einem Campo, eine Kirche, eine Fassade musternd, mit dem Block auf den
Knien, er hätte uns gesagt: Ich kritzle, hier nebenbei mit dem Stift in der
Hand, damit ich sie sehe, die Kirche, die Fassade, damit ich es wahrnehme,
mein Venedig; dazu reichen die Augen nicht allein, es braucht den
kritzelnden, krakelnden Stift auf dem Papier.
Nehmen wir nun diesen dunklen Kanal und fahren in
die Richtung Cannaregio, jenes Sechs- tels (Venedig hat, Sie wissen das,
keine Viertel, sondern Sechstel); jenes Sestiere, in dem die Kanäle wie mit
dem Lineal gezogen sind. Wen sehen wir, vom Wasser aus? Den Künstler, der
wie alle Venezianer die Stadt als die Stadt der Gehenden begreift,
allenfalls einmal ein Traghetto benutzt, um sich nicht auf der Rialto-Brücke
durch die Menge zwängen zu müssen. Menschliches Maß hat dieses Venedig – Sie
kommen gehend, wohin Sie wollen. Er ist wohl nicht auf dem Weg zur Kirche
Modonna dell’Orto, wo Tintoretto begraben liegt, er ist in diesem Sechstel,
einst von Kaufleuten und Künstlern bevorzugt (und Tintoretto war, nebenbei,
auch ein Kaufmann) – er ist unterwegs zu einer kleinen, historischen
Druckerei, in der junge Leute die alten Pressen bedienen. Und wir hier, aus
unserer Gondel, sehen Peter Marggraf in der Werkstatt verschwinden.
Lassen Sie mich an dieser Stelle meine kleine
Venedig-Erzählung abbrechen und eingestehen: Es war eine Collage, die ich
Ihnen präsentiert habe. Ich habe einen Brief aus Venedig genommen, vor 150
Jahren geschrieben von John Ruskin, dem großen englischen Kulturkritiker und
Kunstförderer, und ich habe Peter Marggraf sich in dem dort beschriebenen
Venedig bewegen lassen. Doch was ich über seine künstlerischen Aktivitäten
in Venedig berichtet habe, entspricht der Wahrheit: Zeichnungen und
Skizzenbücher, Drucke und Mappen sind dort entstanden.
Das ist die sichtbare Seite der
Auseinandersetzung Peter Marggrafs mit dieser Stadt, ihrer Kunst, ihrer
Architektur, ihrer Geschichte. Aber es gibt auch einen nicht sichtbaren,
untergrün- digen Strom, der Peter Marggraf mit Venedig hurzschließt: Es ist
nicht das augenscheinlich Moribunde dieser Stadt, nicht jener
Verfallensreiz, das hetärenhafte Charmieren mit der abblätternden
Schminke. Es ist eher die Fragilität eines von Menschenhand, von
Generationen tollkühn in Wasser und Schlamm gesetzten Kunstgebildes:
“fragile, handle with care”. Dem eignet, gleich dem mundgeblasenen, farbigen
Glas, ausgestellt in den Showrooms am Markusplatz, Festigkeit wie
Zerbrechlichkeit: “fragile, handle with care”. Doch trotz aller Gefährdung
durch hohe Wasser wie Verlandung der Lagune, durch rücksichtslose
Bau-Eingriffe wie die vergiftende Industrie – Peter Marggrafs Venedig würde
nie versinken. So wenig wie das der Rose Ausländer, die in einem Gedicht die
Zeilen notierte: „Venedig / meine Stadt // Ich fühle sie / von Welle zu
Welle / von Brücke zu Brücke // Ich wohne / in jedem Palast / am großen
Kanal // mein Venedig/ versinkt nicht“ – ”La mia Venezia / non sprofonda.”
Darum habe ich also Peter Marggraf in dieser
kleinen Inszenierung durch Venedig gehen lassen – er ist Venezianer, nicht
von Geburt oder Herkommen, sondern von Beruf und Berufung her: Diese Stadt
Venedig als Resonanzkörper seiner künstlerischen Arbeit – die Impulse für
seine Kunst, von jeher auf Darstellung (nicht Bewältigung) existentieller
menschlicher Erfahrung aus, auf Intensivierung der Auseinandersetzung mit
körperlicher und seelischer Verfaßtheit und Verstörung des Einzelnen, seiner
Verletzbarkeit wie Verletztheit – diese Signale hallen wider und verstärken
sich für ihn in dieser Stadt. Venedig – ein Schwingungsfeld, in dem er sich
nur zeichnend, radierend, modellierend behaupten kann. Es hat Gründe, daß
Peter Marggraf seine Presse „San Marco Handpresse“ genannt hat. Allerdings
betreibt er auch ein Rollen-, ein Vexierspiel. Denn er unterhält, im
Gegensatz zu dem was die Verlagsangabe suggeriert: San Marco Handpresse
Venezia kein ”editorial office” in der Serenissima, wo fleißige
Sekretärinnen und Verlagsangestellte die florierenden Geschäfte abwickeln.
Seine Presse ist immer noch ein Ein-Mann-Betrieb, Hauptsitz Bordenau. Lassen
Sie uns die Werkstatt, unterstockig im Winkel gelegen, besuchen. Leider
müssen Peter Marggrafs Skulpturen, aus holländischem Ton geformt, nach dem
Brennen wie ein alter Eisenguß schimmernd, außer Betracht bleiben. Wiewohl
die Augen sich daran festsau- gen möchten und die Hände in einem
Anrührungsdrang verharren müssen. Im Kellerwinkel steht sie also, die alte
Setzmaschine, eine Linotype vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Ein
wahrhaftiges Prachtstück, so gut wieder in Schuß gebracht, an der Seite der
Bottich mit geschmolzenem Blei, der Setzer-Schemel, die Tastatur, der Vorrat
der Messing-Matrizen. Alle Bücher der San Marco Handpresse haben ihre eigene
Ästhetik: eine strenge Einfachheit und Zurückgenommenheit, deren Raffinement
sich erst beim zweiten, beim dritten Blick erschließt. Es ist jedenfalls
nicht jene virtuelle Wunderwelt des ”desk top publishing”, in der sich auf
dem Monitor per Mausklick die gesetzten Zeilen vergrößern, verkleinern,
verschie- ben, diese oder jene Vorder- oder Hintergründe einbetten lassen.
Es ist vielmehr eine klassisch moderne, eine
neusachliche Ästhetik, hervorge- gangen aus den Möglichkeiten des Materials
und eingebunden in dessen Grenzen. Die aber kann nur ein Büchermacher wie
Peter Marggraf mit seinem Auge, seiner Hand, mit seinen Fertigkeiten und
Fähigkeiten bis in den letzten Winkel auskundschaften. Und was ist in den
Büchern zu lesen? Er druckt Beckett und Bachmann, und er druckt Georg
Büchner, Heinrich Heine, Georg Trakl und Franz Kafka. Wenn er die
„Verwandlung“ von Franz Kafka angeht, widersteht er der Ver- suchung (wie
nicht jeder Künstler vor ihm, jenen Käfer zu zeichnen, als der bekanntlich
Gregor Samsa eines Morgens erwachte.
Das ist schon fast Programm: Denn die Radierungen,
die er seinen Büchern beilegt (und eben nicht fest ins Buch einbindet), sind
keine Illustrationen, keine Bebilderungen von Texten. So wie es ihm mit
Venedig, seiner Stadt, geht, behaupte ich, so ergeht es ihm auch mit der
Literatur, die er in seine Bücher fasst: Es ist der Widerhall eigenen
künstlerischen Empfindens, den er in den Zeilen, zwischen den Zeilen
wahrzunehmen sucht. Und wir befinden uns, wenn wir uns einlassen auf die
Sprache der Texte wie auf die Sprache der Bilder in einem Hallraum der Wort-
und Zeichenempfindlichkeit. Soll heißen: Wir befinden uns im Raum der Kunst.
Aus der Rede zur Ausstellungseröffnung am 27.
September 2001 in der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover
(gekürzt und überarbeitet).
Mehr Informationen finden Sie hier
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