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Wie Prometheus kreativ
Über ein neues Buch von Hans Georg Bulla und Peter Marggraf

 

Wolfgang Brenneisen

Wer oder was ist Prometheus? Eine schillernde, zwielichtige Figur. Ein Projektionsidol, das nach den eigenen Wünschen und Hoffnungen passend gemacht werden kann. Ein Schlaumeier, ein Wohltäter, ein Aufklärer, ein Rebell, ein Unheilbringer. Es ist eine undurchsichtige charakterliche Gemengelage, die uns der Mythos beschert hat, der sich, das muß man ihm als mildernden Umstand zugute halten, aus verschiedenen, sich widersprechenden Quellen speist.
In dieser Situation halte ich es wie Prometheus selbst, ich packe ihn am Portepee, ich nagle ihn auf einen der ihm zugeschriebenen Charakterzüge fest: Da er auch den ersten Menschen aus Lehm geschaffen haben soll, ist er für mich der Kreative schlechthin, denn diese Schöpfungstat hatte enorme Folgen – die Menschen selbst entpuppten sich (wenn auch nicht generell, ja genau betrachtet nur in wenigen Einzelfällen) als Kreative. Eine Kettenreaktion ohne Ende.
Mit dieser kleinen, wenn auch weit ausholenden Introduktion bin ich bei meinem eigentlichen Thema angelangt: Es geht um die beiden Kreativen Hans Georg Bulla und Peter Marggraf. Jeder hat für sich (und zunächst ohne Kenntnis vom Wirken des anderen) seinen Kosmos und seine Gestalten geschaffen („Hier sitz’ ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde“). Dabei hätte es auch bleiben können, der eine hätte sich im Reich der Literatur positioniert, der andere in dem der Kunst, sie wären durch Lichtjahre voneinander getrennt gewesen und hätten bestenfalls in Feuilletons schöngeistiger Blätter die Existenz des Antipoden flüchtig wahrgenommen.
Durch einen glücklichen Zufall aber haben sich die Wege der beiden Ende der 80er-Jahre gekreuzt. Workshops, Seminare, Ausstellungseröffnungen, Texte standen am Anfang der Kooperation, und nachdem Peter Marggraf in den 90er-Jahren seine San Marco Handpresse gegründet hatte, kam es zur Symbiose: 1997 erschien Hans Georg Bullas Band „Flügel über der Landschaft“. Gedichte lieferte der eine, für die ästhetische Buchform sorgte der andere.
Aber das war noch nicht alles. Bei diesem Band trat der Büchermacher auch als Künstler in Erscheinung und komplettierte die Texte mit Grafiken – ein neues „Format“ war geboren, ein Gesamtkunstwerk, das den Anfang einer ganzen Reihe von Kunst-Literatur-Objekten dieser Art markierte. Mehr als zehn Mappen und Bücher sind mittlerweile entstanden. Die prometh-eischen Dioskuren haben ihre separat geschaffenen Welten miteinander vereinigt. Zumindest zeitenweise und in ausgewählten Projekten.
Daß das Tandem Peter Marggraf und Hans Georg Bulla auch Aufnahme in die einzigartige Sammlung Hartmann in der Vorarlberger Landesbibliothek Bregenz gefunden hat, erscheint, trotz glücklicher Begegnungen und Konstellationen, wenn nicht gerade unausweichlich, so doch logisch. Schrift-Bilder und Figuren-Bilder, so die Idee des Sammler-Ehepaars, sollen sich ergänzen, zusammenklingen, sich gegenseitig erweitern und verstärken. Das Ganze wäre dann mehr als die Summe der Teile.
Brigitte und Gerhard Hartmann sind nicht bloße Archivare, die nur ihre Regale füllen wollen, sondern inspirierende Auftraggeber. Haben sie sich für einen Schriftsteller entschieden und ist dieser bereit, Autographen zur Verfügung zu stellen, so suchen sie einen bildenden Künstler, den sie für geeignet halten, kongeniale Bilder zu schaffen.
Und hier wird’s interessant. Oder auch problematisch. Denn was geschieht, wenn der Künstler seiner Aufgabe nicht gerecht wird? Wenn der Leser und Betrachter, also der Konsument und Laie, beim besten Willen keine Verbindung zwischen Text und Bild erkennen kann?
Keine Sorge, hier springt die Fachkraft in die Bresche. Das ist der Interpret, der, wenn es sein muß, mit einem tollkühnen Spagat den Abgrund überbrückt. Etwas geht immer. Die Aufgabe des Interpreten wird enorm erleichtert, wenn die Bilder mehr oder weniger abstrakt sind. Dann kann es sein, daß das Objekt sehr nett und dekorativ wirkt, und eine zweite Fachkraft, der Kritiker, kann guten Gewissens das Prädikat „stimmig“ verleihen.
Doch will ich hier nicht zu sehr theo-
retisieren, sondern die Probe aufs Exempel machen. Ich wähle den Band: Hans Georg Bulla, „Wie an jeden Tag“; Peter Marggraf, „Sieben Tage“, erschienen in der San Marco Handpresse 2016. Soviel ich weiß, ist das Buch nicht im Auftrag eines Dritten entstanden, und es ist auch (bis jetzt) in keine Sammlung aufgenommen worden. Die Frage ist: Passen Marggrafs Zeichnungen zu Bullas Texten? Und: Sind sie mehr als schmückendes Beiwerk?
Ohne zunächst auf Details einzugehen, kann man generell sagen: Es besteht eine grundsätzliche Affinität zwischen den Kollaborateuren. Sie haben beide ein handwerkliches Ethos. Peter Marggraf ist nicht nur ein sorgfältiger Büchermacher, sondern beweist auch mit seinen Skulpturen, Fotografien, Zeichnungen und Drucken, daß er nicht bestrebt ist, etwas genialisch hinzuhauen. Die Arbeiten haben Hand und Fuß, man spürt, daß der Künstler nicht dem Widerstand der Wirklichkeit ausweicht. Er ringt dem Stoff eine Form ab. Daß Marggraf im Prinzip gegenständlich arbeitet, kommt der handwerklichen Grundeinstellung entgegen – im Abstrakt-Ungefähren läßt sich leichter schummeln.
In den Texten von Hans Georg Bulla zeigt sich das Handwerkliche in anderer Weise. Es ist spürbar im sorgfältigen Umgang mit den Wörtern. Da wird jedes gewogen und an den ihm gemäßen Platz gestellt. Flotte, vom Zeitgeist getragene, Aufsehen erregende Formulierungen wird man nicht finden. Bulla ist, formal gesehen, ein konservativer Autor, und das in positivem Sinne. Man fühlt sich bei ihm auf sicherem Boden und muß sich nicht angesichts verblüffender gedanklicher Volten die bange Frage stellen: Was will uns der Dicher eigentlich sagen? Seine Kunst besteht darin, das scheinbar Bekannte mit kleinen Verschiebungen und feinen Nuancierungen in einem neuen, überraschenden Licht erscheinen zu lassen. Wobei dieses neue Licht etwas Bodenloses und Abgründiges offenbaren kann.
Die handwerkliche Grundeinstellung von Autor und Künstler wäre also eine solide Basis für ein gelingendes Zusammenwirken, aber natürlich erwartet man noch mehr, etwas Spezifisches in diesem besonderen Fall, bei diesem konkreten Buch. Schaut man sich Peter Marggrafs Zeichnungen an, so fällt auf, daß sie von Figuren beherrscht werden. Wäre es da nicht schön, wenn die Lyrik primär vom Raum geprägt würde, so daß sich Bild und Wort wunderbar ergänzten? Marggrafs Gestalten würden in Bullas Bühnenraum auftreten, und alles wäre stimmig und perfekt.
Funktioniert aber nicht ganz so. Die Welt der Kunst fügt sich selten den sauber trennenden Kategorien des Verstandes. In Bullas lyrischer Welt gibt es nämlich beides, den Raum und die Figuren. So müssen wir also zunächst im Falle Marggraf einen defizienten Modus konstatieren. Bullas Gedichtwelt wird nur zur Hälfte widergespiegelt.
Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir uns klarmachen, was für diesen lyrischen Kosmos charakeristisch ist. Kosmos? Vielleicht ist dieser Begriff hier eine Nummer zu groß, denn in fast zwei Dritteln der 41 Gedichte bilden Dorf und Land den Bühnenraum, wenn der Vergleich gestattet ist. Bulla ist kein urbaner Dichter, kein Villon („mich kitzelt der Geruch der großen Stadt“). Aber man darf sich da nicht in die Irre führen lassen, Dorf bedeutet in diesem Zusammenhang nicht: hinter den sieben Bergen, eine weltabgeschiedene Idylle, die den Anschluß an die Aktualität verloren und deshalb uns modernen Menschen nichts zu sagen hat. Das Dorf ist hier eher eine existenzielle Metapher, ein übersichtliches Bezugssystem: wenige Menschen, die nicht in einem Gewimmel untergehen und sich noch in die Natur eingebettet fühlen.
Andererseits: Baum, Kraniche, Gartenbeet, Wildpferde, Katzen, Stare, Wiese, Scheune, Wolken, Bussard, Gräser – das klingt ja im Zeitalter des Smartphones, der sozialen Netzwerke, der virtuellen Realitäten, der künstlichen Intelligenz usw. ziemlich „uncool“. Allerdings haben diese zauberhaften modernen Erfindungen die fatale Nebenwirkung, daß sie einen Schleier legen über die existenzielle Situation des Menschen, die trotz aller Fortschritte gleichbleibt. Der täuschende Schleier der Maja. In den ländlichen, dörflichen Szenerien der Gedichte dagegen zeichnen sich die elementaren Gegebenheiten des menschlichen Lebens unverhüllt, schroff, ja unversöhnlich ab.
Mit der Kategorie „Dorf und Land“ sind natürlich noch nicht alle Raumvorstellungen in der Gedichtauswahl erfaßt. Man müßte zum Beispiel im Auge behalten, wie an manchen Stellen die Stadt in das Land hineingreift, welche Rolle Innenräume spielen oder was Zeiträume bedeuten, wenn beim Betrachten von alten Fotos die Vergangenheit aufsteigt. Lassen wir das auf sich beruhen, und beschäftigen wir uns mit den Figuren, die in den Räumen agieren. Wer ist das?
Es ist der Landvermesser, der Nachbar, der Gärtner, der Vater, eine Frau, die den Wäschekorb trägt, der Schwimmer, die Scherenschnitterin, die Kinder, ein Gleisarbeiter, ein Blinder, die Köchin, der Herr Pastor, eine Frau, die gestorben ist, ein Steinesammler, der den Tod wählt, die Toten. Die Liste ist sicher nicht vollständig. Man hat auch das Gefühl, daß manche Tiere dasselbe Gewicht wie die Menschen haben. Überdies scheint es angemessen zu sein, besser von Gestalten als von Figuren zu sprechen. Figuren kann ein Puppenspieler hin und her schieben, Gestalten dagegen haben ein Eigenleben.
Zu diesen Gestalten, die eindeutig beim Namen genannt werden, kommen noch besondere dazu: ein Ich und ein Du. Sie sind einerseits viel weniger konturiert als die oben genannten, andererseits suggestiver und beherrschender. Wobei das Ich die letzte Instanz ist. Das Du kann ein Ich aus früheren Zeiten sein, so daß der vermeintliche Dialog in Wahrheit ein Selbstgespräch ist.
Es läßt sich nicht schlüssig beweisen, aber eine Theorie aus der Traumdeutung könnte zutreffen: Alle Gestalten sind im Grunde Emanationen des Ichs. Natürlich ist der Gärtner, um ein Beispiel zu geben, eine Gestalt für sich, möglicherweise hat der Dichter einen Menschen vor Augen, dem er im wirklichen Leben begegnet ist. Aber so, wie er im Gedicht dargestellt wird, drückt er die Gefühle und die Seinserfahrung des Schreibenden, Imaginierenden, Beschwörenden aus: „ich knie im leeren Beet, / grabe meine Hände / ein, beide zugleich, / ich bitte darum, / tut sich aber nicht / auf, die Erde“.
Das wäre eine skizzenhafte Darstellung der lyrischen Welt von Hans Georg Bulla, wie sie uns in „Wie an jedem Tag“ erscheint, unter dem Gesichtspunkt „Raum und Figuren“. Wie sieht es nun in Peter Marggrafs „Sieben Tage“ aus, den sieben Kartondrucken, die als künstlerische Entsprechung gedacht sind?
Wie schon erwähnt, ist der Raum hier kein Thema, es dominieren die Figuren. Natürlich geht es auch bei dieser Darstellungsweise nicht ganz ohne Raum ab, denn wenn Figuren nebeneinander gestellt werden, ergibt sich zwangsläufig eine Trennung, also ein Zwischenraum. Aber dieser Raum ist eine Quantité négligeable, darauf brauche ich hier nicht einzugehen.
Wenn oben gesagt wurde, bei Bulla sei es angemessener, von Gestalten als von Figuren zu sprechen, scheint es sich bei Marggraf eher um Figuren zu handeln, ohne daß damit eine Wertung abgegeben wird. Diese Figuren haben etwas seltsam Flächenhaftes, als wären sie gar nicht in der Lage, einen Raum zu füllen. Die Gesichter ähneln einander, fast könnte man meinen, es sei ein und dieselbe Person, deren Gesicht aus verschiedenen Perspektiven und in unterschiedlicher Größe gezeigt wird. Eigenartig sind auch die Augen. Sie blikken wie erstarrt, als könnten sie nichts fixieren, nichts wahrnehmen oder begreifen. Was hat das zu bedeuten?
Auf einer Zeichnung erscheint eine Figur, die sich markant von den anderen unterscheidet. Es ist ein Gerippe. Der Kopf ist ein Schädel, das Auge eine Augenhöhle, mit der das Wesen paradoxerweise auch zum Blick fähig ist. Da fällt es uns wie Schuppen von den Augen: Wir befinden uns in einer Totenwelt, in einem Hades, in einem blaugrauen Kontinuum, in dem Raum und Zeit keine Rolle spielen. Wenn die Reihe der Zeichnungen „Sieben Tage“ heißt, so ist das eine absichtsvoll gewählte Absurdität. In dieser Welt gibt es keine Tage und keine Zählung. Hier gibt es kein Miteinander, kein Gespräch, keine Wärme. In einer Zeichnung wird eine Umarmung dargestellt, aber sie wirkt wie versteinert.
Zu dieser Deutung paßt das letzte Gedicht von Bulla „Aus einem alten Bericht“, das wohl als Schlußwort zu verstehen ist. Dort ist von einem Dorf die Rede, einem fernen mit fremden Gebräuchen, in dem versucht wird, die Körper der Toten mit verschiedenen Maßnahmen eine Zeitlang zu erhalten: „Damit die Toten länger / bei uns sind.“
Tod und Vergänglichkeit sind bei Bulla markante Motive, sie finden sich in einem knappen Drittel der Gedichtsammlung. Andere Gedichte wirken wie die Notate eines genauen, sensiblen Beobachters, der Zusammenhänge sichtbar macht, wo andere nichts Mitteilenswertes erkennen können. Insgesamt ist die Stimmung eher melancholisch. In wenigen Gedichten, in denen Tiere, etwa Katzen, Vögel oder Pferde, die Akteure sind, ist der Ton etwas lockerer. Man hat den Eindruck, daß sich eine dunkle Wolke herabsenkt, wenn das Bewußstein jenseits des Animalischen erwacht.
Das ist eine Weltsicht, die ihre Berechtigung hat, auch wenn damit nicht alle Seiten des Seins erfaßt sind. Peter Marggrafs Totengalerie ist eine Art Interpretation der Texte, sie verstärkt die dunkle Stimmung. Eine zweite Bedeutungsdimension schiebt sich hinter die Worte.
Marggrafs Figuren wirken wie Röntgenbilder von Bullas Gestalten. Der Nachbar, der Gärtner, der Vater – das sind Menschen, die etwas tun und mit ihrem Tun beweisen, daß sie am Leben sind. Die Bilder aber umgeben sie mit der schicksalhaften Aura der Vergänglichkeit. Einerseits noch erwärmt vom Licht des Lebens, stehen sie zugleich im Schatten des Todes.
Eine hoffnungslose Situation? Ja. Und dennoch gibt es da etwas, was über das unausweichliche, eherne Schicksal hinausweist. Man könnte es einen Funken nennen. Kein Funken der Hoffnung, es ist eher ein schwacher Schimmer, eine Denkmöglichkeit, ein Spalt in einer schwarzen Wand.
In Bullas Gedicht über die Toten in dem fremden Dorf heißt es: „Wir hocken uns / zu ihren Füßen, / hören, was sie uns / erzählen und wie sie / singen.“ Wort und Musik schaffen also eine Verbindung zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Es steht zwar so nicht im Gedicht, aber man könnte sich vorstellen, daß es auch die Toten sind, die da hocken und den Geschichten und dem Gesang der Lebenden lauschen. Und sich so an das wunderbare Leben erinnern mit seinen Farben, Gerüchen, Klängen und unendlichen Geheimnissen.


 Das Buch Wie an jedem Tag mit Gedichten von Hans Georg Bulla und Kartondrucken von Peter Marggraf finden Sie hier 

 

 

 

 

 

 

 

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