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Für Auge, Hand und Kopf


Die weißen Bücher: Peter Marggraf hat den 50. Band seiner Reihe „I libri bianchi“ vorgelegt, 15 Autorinnen und Autoren tragen Gedichte und Texte zu „Figuren im Raum“ bei. Das Buch steht exemplarisch für die ganze Serie der „Weißen“. Und sie geht weiter.

     
     
   

 

Von Rolf Birkholz

Sicher nicht zufällig widmete sich Peter Marggraf im ersten Band seiner Buchreihe „I libri bianchi“ Rainer Maria Rilkes „Spätherbst in Venedig“. Damals, 2009, war der Bildhauer, Graphiker und Büchermacher aus Bordenau schon seit Jahrzehnten der über die Jahrhunderte so viele Künstler und Autoren anziehenden Lagunenstadt verbunden, „verfallen“ wäre hier wohl etwas klischeehaft formuliert. Hans Georg Bullas Charakterisierung des jedes Jahr auch in Venedig Eindrücke aufnehmenden und dort arbeitenden Norddeutschen Marggraf als „Venezianer von Beruf oder Berufung her“ dürfte es treffen.
Venedig ist denn auch noch wiederholt Thema in der Buchreihe, ob wiederum in Zusammenhang mit Rilke oder auch bei August von Platen, Johann Wolfgang von Goethe und Theodor Däubler, dominiert die jetzt auf 50 Bände angewachsene Serie aber keineswegs. Im Gegenteil zeichnen sich die in Marggrafs Werkstatt digital auf Bütten im Format 15 x 23,5 cm per Laser gedruckten, von seiner Hand gebundenen und in auf jeweils 100 Stück limitierten, numerierten Auflagen erscheinenden Bücher durch eine große Vielfalt an Schriftstellerinnen und Schriftstellern und entsprechend unterschiedlichen Texten aus.
Dazu steuert Marggraf jeweils Arbeiten in verschiedenen Techniken bei. Gleich im ersten Band etwa stammen sie naheliegend aus seinen venezianischen Skizzenbüchern. In den folgenden Ausgaben der bibliophilen Reihe finden sich zudem Abbildungen von Bronzeplastiken, aquarellierte oder andere Zeichnungen (Kohle, Rötel), Kartondrucke, Radierungen, Holzschnitte, Frottagen. Fotografien hat er mit einer 100 Jahre alten, nicht mehr ganz lichtdichten, aber so für seine Zwecke umso geeigneteren Plattenkamera zu dem Band mit Gedichten von Platen hergestellt. Da wandte er sich erstmals künstlerisch der Fotografie zu, um, wie er es selbst ausdrückte, „mit der Hilfe von Licht zu malen“. „Angestrebt (und verwirklicht) ist hier in aller Regel eine Präsentation zweier ‒ im Idealfall gleichwertiger ‒ Disziplinen“, schreibt der Schriftsteller Johann P. Tammen in den „Berichten aus der Werkstatt“ 2021 zu der Buchfolge. Nicht selten wird der Tod thematisiert, herrscht eine vieltönige Grau-Palette vor, aber auch Farben kommen nicht zu kurz, selbst bei Totenschädeln.
Aber wie kam es überhaupt zu der Buchreihe? Als Marggrafs Schränke immer voller wurden, suchte er nach einer Möglichkeit, seine inzwischen mehrere hundert Zeichnungen und Drucke „Texten gegenüber zu legen“, berichtet er. Buchdruck hatte er ja schon mit seinen Bleisatz-Mappenwerken mit Originalgrafiken betrieben. „Es mußten Bücher sein, die meine Grafiken als Reproduktionen abbildeten.“ So habe er auch größere Blätter verkleinert wiedergeben und Arbeiten benutzen können, die seine Werkstatt längst verlassen hatten. „Eine neue Reihe war geboren.“ Und da Marggraf durchgehend, für Umschlag, Einband und Textseiten, weißes Papier verwendete, bot sich auch sogleich der Name an: I libri bianchi. Die weißen Bücher.
Dem Künstler und intensiven Leser Marggraf fallen bei der Lektüre dazu passende Zeichnungen oder Drucke in seinen Papierschränken ein, Blätter, die ähnliche Gefühlslagen spiegeln wie er sie gerade lesend verspürte. „Wenn mich ein Text sehr bewegt und ich keine Blätter dazu in meiner Werkstatt finde, muß ich auch etwas Neues dazu schaffen.“ So habe er sich ähnlich wie das Schulmeisterlein Wutz bei Jean Paul (dem ein eigener Band gewidmet ist) seine Bibliothek eigenhändig gedruckt.
Und so leuchtet es ein, wenn etwa für Friederike Kohn die Bände der „Weißen Reihe“ gestalterisch und inhaltlich auch „Lebensabschnitte und Werk Peter Marggrafs wiederzugeben“ scheinen. Er suche gleichsam „nach seinen Lebens- und Werkthemen in der Literatur anderer Epochen.“ Und weiter: „Die Themen ‒ die Verzauberung durch eine Stadt oder einen Ort, Tod und Liebe ‒ gab es immer und wird es immer geben.“ Dabei ergänzten und interpretierten Marggrafs Arbeiten die ausgewählten Texte nicht, so die Autorin, sie stellen vielmehr eine zweite Sicht, eine andere Ebene dar.
Neben den schon Genannten sind unter anderen Arthur Rimbaud und Charles Baudelaire in der Reihe dabei, Heinrich Heine und Franz Kafka, Friedrich Hölderlin, Stefan George, Gertrud Kolmar und Paul Celan. Aber auch zeitgenössische, der Handpresse nahe stehende Autoren wie Gerd Kolter, Peter Piontek, Florian Vetsch oder Michael Hillen und nicht zuletzt Hans Georg Bulla, der mit mehreren Büchern vertreten ist, finden sich. Für den 30. Band, „So weiß das Papier“, hatte Marggraf sich etwas Besonderes einfallen lassen: Zu den Gedichten von seinem Haus verbundenen Autorinnen und Autoren zeichnete er deren Portraits.
Und eine spezielle Ausgabe sollte auch die 50. sein. Immer wieder hat Peter Marggraf mit Zeichenstift, Radiernadel oder formender Hand auf Literatur reagiert oder andere Eindrücke verarbeitet, auch in seinen zahlreichen Bleisatz-Künstlerbüchern. Nun, zur 50. Ausgabe der „weißen Bücher“, hatte der Künstler dazu aufgefordert, sich, umgekehrt, einmal schreibend mit Gedichten oder kurzen Prosatexten auf seine Arbeiten einzulassen.
Dazu hatte er 18 postkartengroße Abbildungen von allesamt figürlichen Zeichnungen, Radierungen oder Stuck-Plastiken zur Verfügung gestellt. Die Eingeladenen reagierten gern und zügig. Hans Georg Bulla als Herausgeber hat mit Marggraf aus den Einsendungen von 15 Autorinnen und Autoren einen Band mit 43 Beiträgen zu 15 Abbildungen zusammengestellt. „Figuren im Raum. Gedichte und Texte zu Arbeiten von Peter Marggraf“ kann sich in jeder Hinsicht sehen lassen. Es ist ein Buch für Auge, Hand und Kopf geworden und insofern in besonderem Maße exemplarisch für die „Weißen“.
Es war ja zu erwarten und ist gleichwohl erfrischend festzustellen, wie zum Teil sehr unterschiedlich die Schreiberinnen und Schreiber die ja selbst meist „zurückgenommen“ (Bert Strebe in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“) erscheinenden und gerade dadurch auf den Betrachter wirkenden Figuren des Künstlers, deren Gesichter, besonders deren Haltungen im Raum wahrnahmen. Gleich die erste Sequenz zu dem Graphit-Blatt „Tomba (Auf engstem Raum)“ weist diese Bandbreite auf. Die in der Ecke eines Raums halb sitzende, halb liegende Gestalt erinnert Friederike Kohn an eine Grabsituation („Befrei mich Herr / Bevor das Grab sich schließt“), während Michael Hillen ein Gefängnis sieht: „an der zellenwand / hat der tod eine ahnung / von sich hinterlassen“. Diesen beiden dennoch verwandten räumlichen Anmutungen gegenüber steht Christine Kappes Prosa-Erinnerung an ein beengendes, letztlich gescheitertes Hausbauprojekt, beginnend „In den hellen 70ern“.
Und so geht es für den Leser abwechslungsreich weiter, mal eher beschreibend eng am Bild bleibend, mal sich scheinbar von diesem entfernend und sich doch ans Thema haltend, jeweils bemüht, diesem gerecht zu werden, sich dabei mehr oder weniger großen Spielraum nehmend. Und darum konnte es ja auch nur gehen. Zur „Pietà (Stabat mater)“ etwa vertieft sich Hans Georg Bulla in Ausformungen der Stuck-Arbeit, nimmt schließlich wahr: „Das ewige Paar, der tote / Sohn, die trauernde Mutter.“ Holger Küls hingegen sieht sich in einen spätmittelalterlichen Dom versetzt, wünscht mehr Erkenntnis: „ich entzünde eine Kerze / sie gibt zu wenig Licht“. Der „Schachfigur (Dame)“ verleiht Eva Taylor spezielle Stärke: „Die Dame kennt ihren Weg, / kann nicht sehen, / macht keinen falschen Schritt.“ Walle Sayer befindet in bewährter Alltagsblickmanier ganz anders: „Unbeirrt, als könnte er im nächsten Zug / einen König mattsetzen, / steht in der Tischmitte / der Salzstreuer.“
Solche Gegenüber-Positionen machen unter anderem den Reiz dieser Sammlung aus, in der Marggrafs Figuren in so verschiedene Richtungen weisen können, ohne dabei je beliebig zu sein. Das gilt auch zum Beispiel für die Radierung „Die Engel fliegen nicht mehr“, mit der sich Gerd Kolter („In der Ecke. Abgelegt“), Peter Piontek („Der Englein Schar“), Florian Vetsch („Nomadin“), Hugo Dittberner („Pastor nicht nur in Tegel“) und Christine Kappe („Zum Glück ist über allem der Himmel“) so differenziert befaßt haben, wie schon die Titel andeuten.
Clemens Umbricht hat sich als Einziger der „Figur auf rostigem Stuhl“ (Graphit und Tempera) angenommen, die er beim „Gang durch das Museum der Grausamkeiten“ begleitet: „Bleibt nur das Schweigen auf dem Stuhl, / vor dem es ihn nicht gegeben hat, auf dem er jetzt sitzt / und den es / nach ihm noch geben wird.“ Und Georg Oswald Cott bemerkt zur titelgebenden „Figur im Raum“ (Graphit und Buntstifte) ganz gegenwärtig: „Nicht einmal in der / Mondfinsternis / wird es ganz dunkel // immer irgendwo / leuchtet ein Blaulicht / wie heute der Notfall // zum Wiederbeleben / eines Menschen der sich / durchschlug und ankam“.
Wiederum fünf haben sich auf die Strichätzung „Horchender am Stein“ eingelassen. Hillen sieht ihn „geschmiegt / an den stein / wenig braucht es, / ihn zu erweichen“, Eva Taylor wähnt den Stein am Ende in des Horchenden Brust. Das Ohr am Findling, lauscht Holger Küls Berichten aus Ur-Zeiten. Auch für Christine Kappe sind die Steine jedenfalls morgens „noch hell und erzählerisch.“ Und Sabine Göttel schreibt: „es fällt dir leicht mich aus dem fels zu / murmeln gerade weil ich selber schweig“. Das mag wohl auch das Verhältnis von Bildern und Autorinnen/Autoren in diesem Buchprojekt ausdrücken.
50 weiße Bücher. Und es geht weiter. Der Buchkünstler Peter Marggraf bleibt unermüdlich. Nach Lejb Gol-dins „Chronik eines Tages“ (Band 51) hat er inzwischen ein Buch mit einer zwölfteiligen Sequenz zu Hugo Distlers „Totentanz“ mit Sprüchen von Angelus Silesius fertiggestellt, Band 52. Und teilt mit: Auch „den 100sten Band will ich noch gestalten.“
 

 

 

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