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CHOR DER STEINE
Gedichte von Nelly
Sachs - Bilder von Peter Marggraf
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Zwei Blätter aus der Mappe "Chor der Steine" 2012, 33 x 44 cm,
Tempera und Fotografie auf Papier |
Wir sehen den Menschen
Bert Strebe
"...
gleich wie aus eben behauenem Marmor, nicht vollendet genug und ganz wie
rohe Gebilde"
Ovid, Deukalion und Pyrrha
Zeus zürnte den Menschen und schickte ihnen eine Flut. Prometheus aber hatte
seinem Sohn Deukalion befohlen, einen Kahn zu bauen. Als das Wasser vom
Himmel zu fallen begann, bestiegen Deukalion und seine Frau Pyrrha das
Schiff. Es regnete ohne Unterlaß, ganz Griechenland wurde überschwemmt,
alles Volk ertrank. Nach neun Tagen und neun Nächten, als das Wasser ablief,
landeten Deukalion und Pyrrha auf dem Berg Parnass. Sie waren die einzigen
Überlebenden. Deukalion befragte das Orakel von Themis, was sie nun tun
sollten. Die Antwort war: Werft die Knochen der Mutter hinter euch.
Deukalion und Pyrrha erschraken, sie wollten nicht mit den Knochen
Verstorbener Frevel treiben. Doch dann verstanden sie, daß das Orakel die
Mutter Erde meinte, und deren Knochen sind die Steine.
Sie taten wie geheißen, und die Steine, die sie
über die Schultern warfen, wurden zu Menschen.
Die Geschichte aus Ovids Metamorphosen, in der
sich auch die Geschichte der biblischen Sintflut spiegelt, erzählt von der
Menschwerdung und davon, warum der Mensch so ist, wie er ist: „Davon sind
wir ein hartes Geschlecht, ausharrend in Mühsal, / Und wir geben Beweis,
woher wir genommen den Ursprung.“ Die Steine, die zu Menschen wurden, haben
ihre äußere Härte während der Verwandlung verloren. Im Kern, im Innern, sind
sie Steine geblieben. Hart im Sinne von: mitunter hart zu sich und anderen.
Hart aber auch im Sinne von: widerstandsfähig.
Der Bildhauer, Büchermacher, Drucker, Zeichner
und Maler Peter Marggraf sammelt seit mehr als zehn Jahren Flintsteine am
Strand der Ostsee. Kisten und Kästen und Eimer voll hat er zu Hause in
Bordenau. Seit einiger Zeit sind diese Steine sein künstlerisches Thema,
zudem das, woraus Steine wiederum bestehen (und woraus laut Bibel auch
Menschen bestehen): Staub, Erde, Asche.
Peter Marggraf hat einige von den gesammelten
Steinen ausgesucht, hat sie ausgewählt nach ihrem Aussehen, danach, wie sie
sich anfühlten. Dann hat er sie fotografiert, viermal, fünfmal, und sich
schließlich für jeweils eine Aufnahme entschieden. Diese Bilder hat er in
Schwarzweiß auf Büttenpapier gedruckt.
Und dann begann die eigentliche Arbeit: Mit
Aquarellfarbe und seinem charakteristischen dicken Graphitstift hat Peter
Marggraf zu den Stein-Aufnahmen hinzugefügt, was ihnen bisher zur
Sichtbarkeit fehlte. Er hat geschaut und entdeckt: Diese Steinausbuchtung
ist eine Schulter. Jene ist ein Armstumpf. Das dort ist ein Kopf. Da drüben
sieht man eine Brust. Und dann hat er mit Pinsel und Stift losgelegt, zügig,
vier Blätter in einer halben Stunde. Für jedes Blatt, das er gestaltet hat,
wanderten vier oder fünf in den Papierkorb. Eine falsche Linie, eine
verrutschte Physiognomie – weg damit. Neu anfangen.
Nach einer solchen halben Schaffensstunde mußte
Peter Marggraf erst einmal eine Pause machen. Kein Wunder. Man merkt den
Arbeiten bei aller Leichtigkeit des Strichs an, daß eine extreme
Konzentration hinter den insgesamt 14 Blättern steht. Der Künstler hat jedem
Stein seinen individuellen menschlichen Körper gegeben. Und ein Gesicht
dazu.
Ein paar Beispiele: Hier ein Tänzer, mit
erhobenem Bein, ausgebreiteten Armen und einem Gesichtsausdruck, der
zwischen Freude und Anspannung changiert. Dort ein Brustbild, der Stein
reicht von Schulter zu Schulter und bildet in einer Ausbuchtung nach oben
das Gesicht; Peter Marggrafs Pinselstriche zeichnen die Züge sozusagen auf
dem harten Material nach, als hätte er tatsächlich den Stein bemalt,
Hinterkopf und Ohr und Oberarme sind nur noch grob angedeutet – ein Mann mit
einer Maske. Da ein Bärtiger, der den Kopf abwendet, wieder sind Brust und
Kopf steinbildunterlegt, aber im Rest des sichtbaren Körpers ist eine Unrast
zu spüren, eine schwere, weite Bewegung, als gehöre der Kopf einem Kentaur.
Ein Mann steht, barhäuptig, haarlos, mit dem Stein vor sich wie ein
Brustpanzer, und er scheint ihn etwas von sich weggehoben zu haben und zu
schauen, was darunter ist – das Herz? –, und seine Züge verraten Bestürzung.
Eine Art Ringer oder Krieger sehen wir, den Arm erhoben zum Angriff, das
Gesicht wutverzerrt, und das, was dem Körper Wucht verleiht, ist vor allem
der Stein, der den Kopf und einen mächtigen Brustkorb ausmacht. In einem
ganz wunderbaren Blatt sieht man eine Person, die den Kopf zum Himmel hebt.
Peter Marggraf hat dieses Gesicht wieder auf das Steinfoto gemalt. Und
unten, wo der Stein aufhört, etwa in Höhe des Bauches der Gestalt, sehen wir
eine angeschlagene, abgeschlagene Stelle auf der Oberfläche des Steins, die
wie eine Spiegelung des Gesichts wirkt.
Jedes Blatt, das Peter Marggraf gefertigt hat,
erzählt eine Geschichte durch Andeutungen, mit Rätseln, mit Verwerfungen.
Jedes Blatt ist eine Epiphanie des Menschen.
Aber es steckt noch mehr dahinter. Flintsteine
sind Feuersteine. Sie enthalten organisches Material, Reste von Schalen und
Skeletten. Es gibt in ihnen mikroskopisch kleine Einschlüsse von Wasser und
Luft. Und man kann mit ihnen Feuer machen. Das alles zusammen bedeutet: In
diesen Bildern steckt das Leben selbst, und alle vier Elemente obendrein.
Peter Marggrafs rasche, intuitive Arbeitsweise
zeigt seine Steintuschegraphitfiguren außerdem so, wie Ovid die Entstehung
der Menschen aus dem Stein beschrieb, „gleich wie aus eben behauenem
Marmor“.
Peter Marggrafs Freund, der Dichter Hans Georg
Bulla, hat bemerkt, daß der Künstler in diesen Werken wie ein Archäologe
Scherben zusammensetzt, daß er aus etwas Dreidimensionalem, dem Stein, ein
Bild macht, etwas Zweidimensionales – und aus allem zusammen entsteht dann
ein Blick in eine Dimension außerhalb dessen, was normalerweise sichtbar
ist, nämlich ins Innere. Ins Innere der gezeichneten Figuren. Ins eigene
Innere. Manchmal hat man das Gefühl, wie vor einem Röntgenbildschirm zu
stehen. Es muß sich um eine Art seelischen Röntgenbildschirm handeln.
Ein weiterer Text spielte bei diesen Arbeiten
Peter Marggrafs eine Rolle, das Gedicht „Chor der Steine“ von Nelly Sachs,
enthalten in dem Zyklus „Chöre nach der Mitternacht“, entstanden 1946 in
Stockholm, wo die Dichterin seit ihre Flucht aus Deutschland im Jahr 1940
lebte. In diesem Gedicht sprechen Steine, und sie sagen, sie seien „ein
Ranzen voll gelebten Lebens“, aber auch „alles Sterben umfassend“. Sie
sagen, sie hielten „die Wurzeln der Träume versteckt“ für uns, und: „Unser
Gemisch ist ein von Odem Durchblasenes.“
All das korrespondiert mit dem, was wir über
Flintsteine wissen – und mit dem, was wir bei Ovid lesen. Es gibt in dem
Gedicht von Nelly Sachs aber auch ein Gegenbild, eine Spiegelverkehrung zu
Ovids Entstehung des Lebens aus den Knochen der Erde: „Wie ein Diamant
zerschneidet eure Klage unsere Härte / Bis sie zerfällt und weiches Herz
wird – / Während ihr versteint.“
Doch auch das kennen wir. Wir kennen das Bild,
daß jemand trauert, daß es einen Stein erweichen könnte. Und wir wissen, daß
Menschen unter großer Belastung gleichsam versteinern. Auch solche Figuren
finden wir in Peter Marggrafs Blättern.
Für Peter Marggraf hat das Zeichnen die Funktion,
sich über etwas klar zu werden. Etwas sichtbar zu machen, ein Gefühl
freizulegen, das man nicht in Worte fassen kann. Er folgt dem Graphitstift
oder dem Pinsel, Linie, Punkt, nächste Linie, bis er weiß, daß es ausreicht.
Bis er weiß, das Bild ist ein Bild, es hat ein Innen und ein Außen und ein
eigenes Wesen. Und mindestens ein bißchen von Peter Marggraf selbst ist auch
immer mit dabei.
Der Künstler hat seine Bilderserie „Keinem bleibt
seine Gestalt“ genannt. Und tatsächlich finden wir alles in diesen Blättern,
die Verwandlung, das Wachsen und Vergehen, das Schroffe und das Weiche im
Innern, Biegsamkeit und Starre des Äußeren, die Übergänge dazwischen, das
Jung- und das Altsein, das Erwachen und das Erschrecken, das Aufstehen und
das Niedersinken. Das Leben. Den Tod. Den geschlossenen Kreis.
Wir sehen: den Menschen.
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