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Im Lebensraum der Wörter

 

Antonia B. Uthe

Ein Buch vom Gast leise aus / dem Regal gezogen, / mit dem Rücken zum / Gastgeber“, zeigt Spuren des Gebrauchs, eingelegte Zettel sogar. Eine leichte Geste nur reicht dem Lyriker Hans Georg Bulla, ein unsichtbares Verhältnis zwischen Gast und Gastgeber, einem Leser also, zu kreieren. Solche Bücher, wie dieses leise aus dem Regal gezogene, gestaltet der Bildhauer und Buchdrucker Peter Marggraf in seiner San Marco Handpresse. Er wählt Texte, häufig lyrische, die ihm selber am Herzen liegen, fügt ihnen eigene Grafiken oder Zeichnungen bei und erzeugt so ein Zusammenspiel zwischen Text und Bild.
Die oben zitierten Zeilen sind der Anthologie „So weiß das Papier – Von Wörtern, Bildern und Büchern“ entnommen. Es ist der dreißigste Band Marggrafs weißer Edition „I libri bianchi“ und wurde von Hans Georg Bulla herausgegeben. 2009 brachte er den ersten Band in diesem Format heraus: in Hunderter Auflage, auf Bütten gedruckt und handgeheftet. Signifikanten alles, die ein Buch anders zur Hand nehmen lassen. Der dreißigste Band dieser Edition ist insofern besonders, als Marggraf nicht einen, sondern vierzehn zeitgenössische Autoren und Autorinnen auftreten läßt. Besonders auch, weil der Künstler von allen ein Portrait gezeichnet hat, das er den betreffenden Texten voranstellt. Ihr Auftritt darf also wörtlich genommen werden.
Die Portraits stellen eine Verbindung der Werke untereinander her, aber auch der Titel. „So weiß das Papier“ bedeutet wohl, zumindest im übertragenen Sinne, eine Herausforderung für jeden Kunstschaffenden: für Lyriker, die über ein Wort grübeln, Zeichner, die gleichsam mit dem ersten Strich über den Ausdruck eines Portraits entscheiden und den Buchgestalter, der in diesem Fall auf weißem Büttenpapier alle Eindrücke in einen Zusammenhang bringen muß. Als klarer Bezugspunkt für die Autorinnen und Autoren dieser Anthologie kristallisiert sich vor allem der Untertitel „Von Wörtern, Bildern und Büchern“ heraus. „Sätze sitzen nicht / sie stehen im Raum“, befindet Christine Kappe. Ist der Satz treffend, wird das Schweigen, das sich im Raum ausbreitet zu spüren sein. Mit Wörtern ist es so eine Sache. Wir bilden uns ein sie zu kennen, doch „manchmal fällt nur ein einziges wort / von der spitze eines ahornblatts / und bleibt an meinem mantel hängen / wie ein tropfen aus laternenlicht“ schreibt Bert Strebe. Ein Wort versetzt in einen Aggregatzustand des Lichts, verlangt neu gedacht zu werden. Doch geben Buchstabenkombinationen und Lautbilder nicht per se ‚die eine‘ Bedeutung des Wortes preis, sondern diese kann changieren, je nachdem welche Verhältnisse das Wort gerade eingeht.
Clemens Umbricht setzt seinen Leser mit dem entlehnten Filmtitel „Lost in Translation“ (vorausgesetzt der Leser kennt diesen Film) einer assoziativen Überflutung von Daten und Leuchtreklamen aus, die mit dem gewohnten Wahrnehmen des Menschen kaum mehr kompatibel sind. „Vielleicht sollte man / die Standardabweichung überdenken. / Ob die Wörter bei null beginnen, / wenn man spricht: ja, nein. / Oder sind das auch nur Daten?“ Hier deutet sich eine Skepsis an, die fragt, ob Wörter in der Schnellebigkeit von Daten nicht längst ihren Bezug zur Wirklichkeit verloren haben.
Zuversichtlicher gibt sich Gerd Kolter. Er „setzt die Wörter neu / ins Bild / holt die verirrten / zurück in Geviert / und schickt sie wieder / als Kundschafter aus“ . Doppeldeutig hier der Ausdruck Geviert. Von der Oberfläche her läßt er sich als eine Art Erholungsort verstehen, an dem die Wörter ihre Orientierung wieder finden können, doch auch eine typographische Deutung ist möglich und diese ist hier wahrscheinlich mit gemeint. Das Geviert als Abstandshalter beim Druck mit beweglichen Lettern. Das heißt, die Wörter werden ins Buch gedruckt, bewahrt, um so ihre Kundschaften an künftige Leser weitergegeben zu können.
Das angeblich zu fürchtende weiße Blatt, das für diese Anthologie zu einem Bedeutungsmerkmal avanciert, wird durchaus unterschiedlich eingesetzt. Eva Taylor nimmt es als Lebensraum für Wörter, Synonyme für die Erinnerung an verschwundene Personen. „Das Blatt so weiß. /
Doch leben Wörter da, / vergangene. / Wie Flüchtlinge, / verschwunden / wie Schritte / über ein Blatt.“ Lebende Wörter können viele Gestalten annehmen. Sie können Zeichen sein für Erinnertes, für Bilder, vergangenes Leben und sie können auch eine Wirklichkeit gestalten, für die es noch keine Sprache gibt.
Für Michael Hillen besteht die weiße Fläche aus einem verschneiten Feldweg, auf dem das lyrische Ich sich als Spurenleser betätigt: „hier und da noch eben lesbar / die schrift einer dohle. // vom sturm niedergewehte / späte samenkapseln, zapfen, blätter /…/ spuren groben schuhwerks / und der pfoten eines hundes – // sie alle schreiben / im tilgen des anderen lebenslaufs / an ihrem eigenen“.
Die Porträts von Peter Margraf sind mit Graphit auf Bütten gezeichnet; oft sind es nur wenige Striche, mit denen er charakteristische Merkmale seiner Dichter-Modelle zum Vorschein bringt. Sie sind so verschieden, wie ihre Texte. Und daß sich Portraits mit Wörtern „zeichnen“ lassen, vorausgesetzt man vermag die Striche richtig zu setzen, beweist Peter Gosse, der die Anthologie mit zwei lyrischen Portraits abrundet. Vom Bildner Marggraf. „Indes: Annimmt, in seinen Gestalten, Gestalt / Eine Sehnsucht nach Hoffnung.“ Und dem Dichter Bulla: „Er lässt eine Verschwiegenheit / sich ereignen, / Die aufhorchen macht.“
„Poesie ist eine von vielen Erkenntnisformen des Menschen“, formulierte einst die dänische Dichterin Inger Christensen. In diesem Zusammenhang gelesen, ist der dreißigste Band der „i libri bianchi“ nicht einfach nur ein Lyrikband. Entstanden sind, kreisend um Wörter und Bilder, um das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit – vielleicht sogar zufällig – mannigfaltige Facetten einer Poetik, die nicht aus einer Vogelperspektive heraus theoretisiert, sondern sich im Zusammenkommen der dichterischen Werke selbst entfaltet.

 

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