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IM SOG DER ERINNERUNGEN
Hans Georg Bullas „Geschichten von
früher“
Von Eva Taylor
Hans Georg Bulla ist als
Lyriker weithin bekannt und geschätzt. Im Jahr 2011 erschien im Bielefelder
Aisthesis Verlag der umfangreiche Band „Wechselgetriebe", eine von Gerd
Kolter herausgegebene Sammlung ausgewählter Gedichte und Notate aus über
drei Jahrzehnten, ausgestattet mit eigens dafür geschaffenen
Tuschezeichnungen von Peter Marggraf.
Neue Gedichte kamen im selben Jahr unter dem
Titel „Stimmen im Depot" in einer bibliophilen Ausgabe bei Eric van der Wal
(Bergen/Holland) heraus. Der holländische Pressendrucker und Kleinverleger
war es auch, der Bullas bibliophilen Debütband „Kleinigkeiten“ vor beinahe
vierzig Jahren veröffentlichte, dem dann zahlreiche weitere lyrische
Veröffentlichungen (so zum Beispiel im Suhrkamp Verlag) folgten. Die Liste
der Gedichtbände ist lang und Kontinuität ist eins der Hauptkennzeichen im
Werk Bullas, der für seine Arbeiten mehrfach ausgezeichnet wurde, so schon
in den 80er Jahren mit dem Annette-von Droste-Hülshoff-Preis.
Von Anfang an auch Prosa
Tatsächlich schreibt
Hans Georg Bulla aber seit Anfang der 70er Jahre sowohl Prosa als auch
Gedichte, und die erste Auszeichnung, die er bekommt, ist 1978 der
Kurzgeschichtenpreis der Stadt Osnabrück. Zahlreiche seiner Prosatexte sind
verstreut in Anthologien, Zeitschriften und bibliophilen Veröffentlichungen
erschienen und heute schwer greifbar. Eins läßt sich aber festhalten: Es
sind die Kurzformen, die Bulla auch in der Prosa bevorzugt, sie ermöglichen
– analog zur Lyrik – Konzentration in Form und Ausdruck. Zuletzt ließ sich
das in den „November-Notizen" des „Schwarzen Hefts" (San Marco Handpresse,
2009) verfolgen, denn die Aufzeichnungen dort sind knapp und geben die
Essenz einer Erfahrung wieder.
Wer Bullas Texte chronologisch liest, etwa in dem
Auswahlband „Wechselgetriebe", erkennt bei allen unterschiedlichen
literarischen Bezügen immer wiederkehrende Themen: Alltag, Kindheit,
Erinnerung. Dabei zeigen Bullas Gedichte einerseits die Wahrnehmung
komplexer Konstellationen von Dingen und Situationen, andererseits die
Brüchigkeit der alltäglichen Verhältnisse.
Um das Zusammenfließen von unterschiedlichen,
teilweise widersprüchlichen Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen und deren
Rekonstruktion in der Erinnerung geht es auch in den jetzt vorliegenden
Erzählungen, die unter dem vielsagenden Titel „Zurückwinken. Drei
Geschichten von früher", in der San Marco Handpresse von Peter Marggraf neu
aufgelegt wurden.
Geschichten von früher in bibliophiler
Ausstattung
Die drei in diesem neuen Band erschienenen
Erzählungen Bullas sind Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre entstanden,
zwei wurden seinerzeit bei Wettbewerben ausgezeichnet, alle drei wurden in
verschiedenen Anthologien veröffentlicht – jetzt erscheinen sie zum ersten
Mal gemeinsam in einem Band der Reihe „I libri bianchi", von Peter Marggraf
großzügig mit eigenen „Kopfbildern" ausgestattet, von Hand gebunden und mit
Titelbild und Schutzumschlag versehen. Diese bibliophile Präsentation zeigt
zum einen wohl deutlich die Wertschätzung, die der Büchermacher den Texten
entgegenbringt; zum anderen ruft sie eine Tradition buchgestalterischer
Sorgfalt und Generosität auf, die im heutigen Büchergeschäft zum eigenen
Schaden immer mehr verlorengeht. Die Leserinnen und Leser aber haben mit
einem solchen Buch fast ein eigenständiges kleines Kunstobjekt in Händen,
das Augen- und Lesefreude zu erzeugen vermag.
Die „Geschichten von früher" führen zurück in die
50er, 60er oder auch 70er Jahre, in die Kindheit, die Schul- und
Studentenzeit ihrer Hauptfiguren. So wird einmal erzählt, wie einem Jungen
die Begeisterung für das eigene Musikmachen nach und nach durch den
Musikunterricht ausgetrieben wird; dann stehen die Erinnerungen eines
Flüchtlings- und Nachkriegskindes an die mühsame Verarbeitung des
Heimatverlusts der Eltern und die Integration in der „neuen Heimat" im
Mittelpunkt; und schließlich begleitet die dritte Erzählung ihre Hauptfigur
in das Zimmer eines Krankenhauses, in dem eine entscheidende Untersuchung
ansteht. Wie das im einzelnen genau erzählt wird, verdient eine eingehendere
Betrachtung.
Wie erzählt wird, was erzählt wird
Die erste Geschichte mit
dem Titel „Johannes mit Triangel" setzt mit der Stimme des Protagonisten
ein, eines kleinen Jungen: „Meine Mutter hat eine schöne Stimme". Dieser
erste Ton gehört einem Jungen, dessen konfliktvolle Beziehung zur Mutter
sich in der Musik ausdrückt. „Er wollte singen können wie seine Mutter",
kann es aber nicht, wie er will, wie sie will. Die Mutter spielt Klavier,
der Junge Trommel. Ein ungleiches Paar.
Die Lehrer tun das Ihre, dem Jungen die Musik
allmählich auszutreiben. Einer lässt ihn nicht an die Trommel und im
Gegensatz zu dem berühmten Trommelspieler Oskar Matzerath verteidigt
Johannes sich nicht mit schneidender, Mark und Bein erschütternder Stimme.
Er gibt sich mit der Triangel zufrieden und entwickelt eine diametral
entgegengesetzte Überlebensstrategie – er bleibt stumm. „Lehrer Frei hatte
nie etwas gemerkt. Einmal lobte er ihn sogar, daß er so kräftig beim Bruder
Jakob mitgesungen habe. Dabei hatte er nur den Mund auf- und zugemacht wie
sein einsamer Goldfisch zu Hause im Aquarium. Er nannte seitdem seinen
Goldfisch Bruder Jakob, aber nur für sich" (14).
In dieser Erzählung gibt es auffällige
Wiederholungen. Zunächst liest man sie wie Sätze, die der Protagonist zu
seinen Freunden sagt: „Meine Mutter hat eine schöne Stimme" (7), „Meine
Mutter wollte Opernsängerin werden" (8), „Meine Mutter ist im Kirchenchor"
(8). Hier wird durch parallele Satzkonstruktionen inhaltlich ein Kontrast
angezeigt, nämlich der zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Die (auktoriale)
Erzählerstimme bestätigt: „Er wollte singen können wie seine Mutter" (9).
Während die ersten Sätze noch eine kommunikative Absicht zeigen könnten,
nehmen die Wiederholungen bald einen obsessiven Charakter an, denn sie
betonen die der Geschichte zugrundeliegende Spannung: „Er wollte Klavier
spielen, er wollte Musiker werden" (11).
In dieser emotionalen Spannung kann nur die
Beschönigung der Wirklichkeit dem Jungen helfen: „Meine Mutter kann aber
Klavier spielen" (11), „Meine Mutter hat mir Trommelspielen beigebracht"
(12). Die kindlichen (Not-)
Lügen führen aber auch zu Wunschphantasien: „Wenn
ich singen könnte wie meine Mutter" (13,15).
Diese Sätze entlarven die Illusionen des Kindes
und der Mutter. Die Erzählerstimme wirkt daneben wie ein ernüchternder
Bericht über die Wirklichkeit: „Seine Mutter war Hausfrau …" (16). Am Ende
wird so die Realität klargestellt: „Seine Mutter hatte sich eingebildet,
Opernsängerin zu werden, Gottseidank war ihr Vater vernünftig gewesen und
hatte sie von ihrer verrückten Idee kuriert. Opernsängerin. Er wollte sie
nie mehr singen hören, nie mehr, nie" (21).
Es gelingt Bulla hier, Form und Inhalt zu
verschränken, indem er das Thema der Musik durch ein musikalisches
Kompositionsprinzip verdeutlicht. Die Stimme seiner Hauptfigur wirkt wie ein
immer wiederkehrender Refrain in dieser Erzählung mit wechselnden Strophen.
Schon im rhythmisch akzentuierten Titel der Geschichte klingt dieses Prinzip
an.
In der neuen kalten Heimat
Bullas Begabung für
Titel wird in der zweiten Geschichte deutlich: „Schönbrunn ist eine
Erfindung" führt die Lesenden direkt in die dem Text zugrundeliegenden
Konflikte. Vor dem Hintergrund der Probleme derjenigen, die aus der „alten
Heimat" (Schlesien) vertrieben wurden und sich in der „neuen Heimat"
(Westfalen) zurecht finden müssen, wird aus der Perspektive eines Kindes
erzählt, wie es mitten in dieser sozialen Welt groß werden muß.
„Schönbrunn", die „alte Welt", liegt für den Heranwachsenden so weit weg,
daß sie wie eine Erfindung wirkt. Emblematisch ist der Einstieg in die
Geschichte, bei dem die Erzählerfigur sich selbst wie in einem Film sieht:
„Er sah sich hastig laufen, sah, wie er sich verstolperte und mit dem einen
Knie aufschlug …" (23). Wie schon in der ersten Erzählung werden Sätze wie
Liedzeilen wiederholt, tauchen im Text wie Refrains auf, wie Stimmen, die
sich beim Erinnern aufdrängen: Schönbrunn, damals in Schönbrunn, Schönbrunn
das Mutterparadies (31).
Durch geschickten Wechsel der Erzählerperspektive
von personalem zu auktorialem Erzählen wird die Erinnerung gerafft; wie
durch eine Zoomeinstellung werden einzelne Szenen deutlicher bzw. entfernter
dargestellt. Deutlich wird dieses Verfahren auch bei den Dialogen, die
typographisch nicht abgesetzt werden. Durch die Stimmen der Figuren werden
einzelne Szenen sehr nahe herangeholt, durch den Wechsel zum auktorialen
Erzähler werden sie wiederum distanziert und kommentiert: „Sie kamen
grüppchenweise, familienweise vom Bahnhof herauf, traten in den Saal und
noch bevor sie sich selbst einen Tisch suchen durften, mussten sie seine
Mutter, seinen Vater begrüßen. Ach, Lenchen, schon wieder ein neues Kleid
und alles selbst genäht, und das ist also dein Junge, wie groß schon und dir
wie aus dem Gesicht geschnitten, Lenchen. Er musste aufstehen, die Hand
geben, einen Diener machen" (32).
In dieser Geschichte sind es besonders die
Modalverben, die die Spannung zwischen den Wünschen der Eltern, denen des
Jungen und der Realität zeigen. Denn die jährlichen Treffen der Vertriebenen
finden zwar in heiterer Stimmung statt, für den Jungen bringen sie jedoch
viele Zwänge mit sich, viel „müssen" und „nicht dürfen".
Ein bestimmendes Element dieser Geschichte sind
außerdem die metareflexiven Teile, in denen die Erzählerstimme wie in einen
Dialog mit sich selber tritt und über den inneren Motor dieser
Erinnerungsarbeit Auskunft gibt: „Sich seine eigene Geschichte
zusammenklauben, aus den Bruchstücken, aus Gedächtnisresten und
Bilderfetzen, Stimmen im Ohr" (23 f.). Der Protagonist sucht die eigene Spur
in den Erinnerungen, die voll von ritualisierter, emphatischer Beschwörungen
des verlorengegangenen Lebens sind und wenig Raum für die neue Wirklichkeit
lassen. Am Schluß
(37) heißt es: „Aber wohin gehört so jemand, wo ist er denn zu Hause? Kann
jemand das Wort Heimat in den Mund nehmen, ohne daß es ihm die Zunge lähmt?
Um die biegsame Heimatzunge beneide ich jeden, der sie haben darf. Und was
hilft es mir, ein paar Stücke zusammenzusuchen, ist es deshalb meine
Geschichte?" Hier kommt der Erzähler zum „ich" und durch den Wechsel der
Erzählperspektive konkretisiert sich der Prozess der Selbstbefragung, von
dem bereits im ersten Satz die Rede war: „Später lernte er, einiges davon zu
begreifen" (23).
Versprechen und verschweigen
Die Geschichte „Vom
Versprechen des Körpers" beginnt mit dem Versuch des zunächst namenlosen
Protagonisten (ein Student namens Albert, wie später zu erfahren ist), im
Krankenbett Schlaf zu finden, indem er möglichst viele treffende Wörter für
die quälenden Geräusche seines Zimmernachbarn findet – eine Beschäftigung,
die zu einem Germanistikstudenten paßt.
Dieser Zimmernachbar, Herr Weiss, bleibt in der
Geschichte eine Spiegelfigur, in ihr manifestiert sich eine schwere
Krankheit, deren Anfangssymptome auch der Student Albert haben könnte.
Doch über die
mögliche Krankheit erfahren die Lesenden weniger, mehr wird über die
Beziehung des Protagonisten zu seiner Freundin Karin erzählt und
andeutungsweise über seine Mutter. Die beiden Frauen scheinen in sein Leben
einzugreifen, sie haben etwas fordernd Erwartungsvolles und damit etwas
leicht Bedrohliches. Das verbindet inhaltlich die ersten beiden Geschichten
mit dieser dritten.
In dieser dritten Geschichte wird die
Erwartungshaltung durch die Figur der Freundin verkörpert. Sie ist es, die
ihm eine deadline für das anstehende Examen setzt: „Du meldest dich jetzt
an. Ich habe keine Lust mehr, dich länger auszuhalten" (42). Auch hier ist
die Hauptfigur auf der Suche nach einem Ausweg; waren es in den ersten
beiden Geschichten Strategien des Rückzugs, wie das Verstummen oder die
innere Abkehr von der Familie, scheint hier die Krankheit sowohl als
Bedrohung als auch als möglicher Lösungsweg.
Sprachlich und
erzähltechnisch fällt dabei der Gebrauch von Passivformen auf, mit denen das
Verhalten und die Veränderungen des Körpers beschrieben werden. Sie
geschehen ohne das Zutun des Protagonisten. Das Passivische ist wie ein
Erleiden einer Wirklichkeit, in die er nicht willentlich eingreifen kann.
Stattdessen reagiert der Körper, er „verspricht" sich, wie schon der Titel
doppelsinnig ankündigt – der Student Albert wird krank und bringt sein
Examen und die Beziehung in Gefahr. Auch wenn der Krankheitsverlauf sich
zuspitzt, bleibt das Ende offen; welchen Befund der Protagonist tatsächlich
zu erwarten hat, werden die Lesenden nicht mehr erfahren.
In dieser Geschichte wie auch in den vorherigen
greifen Dialoge und Narration direkt ineinander, denn im Text gibt es keine
Kennzeichnung der direkten Rede, auch die Figurenrede wird ohne Alinea oder
sonstige Hervorhebung wie aus einer einzigen Erzählerperspektive
dargestellt. Es ist, als würden die Stimmen von dem inneren Ohr der
Erzählerfigur gehört und ohne Distanz wiedergegeben. Durch die Einbettung
der gesprochenen Sprache entsteht ein Text von hoher Intensität und großem
erzählerischen Sog.
Im Spinnennetz
In Hans Georg Bullas
„Geschichten von früher" wird durch die beschriebenen Erzählweisen und
Perspektivwechsel ein sich langsam entwickelndes, fein gewobenes Netz von
Beziehungen, Erinnerungen und Gefühlen dargestellt. Ein Spinnennetz, das
bisweilen unsichtbar bleiben mag oder nur im Gegenlicht zu sehen ist, aber
deshalb nicht weniger wirksam ist. Dabei wirken seine Figuren nur beim
oberflächlichen Lesen wie gefangen in solchen Konstellationen; denn zugleich
zeigen sie, mit wie viel nötiger Anstrengung auch immer, eine erstaunliche
Selbstbehauptung und Beharrlichkeit.
Es sind Texte, die durch den Blick in den
Spiegel, durch ein hohes Maß an Selbstreflexion gekennzeichnet sind. So wird
denn auch, bei aller melancholischen Grundierung, bei genauem Lesen ein
hintergründiger Humor und eine Fähigkeit zu nuancierter Selbstironie zu
entdecken sein, die den Autor Hans Georg Bulla auch in seinen Gedichten
auszeichnet. Die
Coda der Bilder
Den Anfängen der drei Geschichten hat Peter
Marggraf jeweils eins seiner „Kopfbilder" beigestellt; den Geschichten
insgesamt folgt dann aber eine längere Reihe dieser Bilder, insgesamt zehn
Zeichnungen, Ätzungen oder Radierungen – eine Art Coda, die den Drei-Satz
der Geschichten auf ihre Art intensiviert und schließlich ausklingen läßt.
Zu sehen sind zurückgenommene, fragende
Gesichter, sparsam skizzierte Köpfe, angedeutete Torsi, nicht auf äußerliche
ästhetische Reize hin angelegte Abbildungen perfekter Körperlichkeit. Eher
wird hier das Fragmentarische, die Brüchigkeit und auch das bisweilen
Leidvolle und Quälende gezeigt. Damit heben diese und die weiteren Bilder
viele der Momente aus Bullas Geschichten auf und machen den Band
„Zurückwinken" zu einem stimmigen, wohlkomponierten und geschlossenen
Ganzen, zu einem bibliophilen Kunstobjekt. |