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I libri bianchi Band 18


Hans Georg Bulla
Wie an jedem Tag
Peter Marggraf
Sieben Tage

Dieses Buch wurde im Herbst 2016 in der San Marco Handpresse hergestellt.
Gesetzt aus der Helvetica und auf 145 gr/qm Bütten der Firma Zerkall gedruckt.
Die sieben abgebildeten Kartondrucke wurden jeweils von zwei Druckstöcken auf
Zerkallbütten (76 x 49 cm) gedruckt.
Preis: 25 Euro zuzügl. Versand

Bei einer Bestellung ab drei Büchern der Reihe werden diese versandkostenfrei verschickt (5,00 Euro versicherter Versand).

Mehr Informationen und alle lieferbaren Titel finden Sie hier 



                                 

 

 

Gegen das Zeitvergehen

Gedichte von Hans Georg Bulla und Grafiken von Peter Marggraf
in einem neuen „weißen Buch“ der San Marco Handpresse.

Von Gerd Kolter

 

Keine metaphorisch dicht aufgeladenen Stimmungsräume zu zeichnen, sondern  aufzuschreiben oder festzuhalten, was im und gegen den Fluss der Tage bemerkenswert erscheint, das ist in diesem Band der Grundansatz des Autors und des Künstlers – in dessen Fall ist dies sogar ganz wörtlich zu nehmen: Peter Marggraf stellt auf dem Umschlag und am Ende des Buches datierte Skizzen eines jeden Wochentages Ende Oktober 2016 vor, Ausschnitte aus einem künstlerischen Tagebuch also.
  
Nicht umsonst hat Hans Georg Bulla an den Anfang ein Gedicht über einen Landvermesser bei der Arbeit gesetzt; dadurch wird das Feld für die folgenden Gedichte abgesteckt, sowohl inhaltlich als auch in der Art der Wahrnehmung: Wir werden im Folgenden – von wenigen Ausnahmen abgesehen – kaum die Landschaft und die unmittelbare Umgebung des Autors verlassen, wir werden seinem präzisen Blick folgen, mit dem er scheinbar Alltägliches aufnimmt, sprachlich bewusst schmucklos, aber achtsam und achtungsvoll: „Das leere Feld, der / schreiende Bussard. / Nebenan der kleine Friedhof …“. Punktuelle Wahrnehmungen an einem Herbsttag werden hintereinander gestellt, nicht auf eine bildliche Parallelebene gehoben. Von den Motiven, von Ton und Duktus her stellt diese Gedichtsammlung eine nahtlose Fortsetzung der voraufgegangenen in der gleichen Reihe dar („Um Haus und Hof“. San Marco Handpresse 2014).
  
Wodurch entsteht dann aber der poetische Mehrwert, wenn auch andere Gestaltungsmittel – mit Ausnahme der Zeilenbrechung  -  sparsam eingesetzt werden? Das wichtigste scheint mir gerade das Anhalten oder, etwas paradox gesagt, die leise Brechung des alltäglichen Zeitvergehens zu sein:   

März
 
Als der Nachbar endlich
in den Baum stieg,
er war spät in
diesem Jahr mit
dem Schnitt,
die Leiter
schief am Stamm,
 
zogen Kraniche über ihn,
 
über seinen Kopf weg,
 
ihr Schreien laut
 
wie die ächzende
 
Säge

  
Die Irritation scheint zunächst harmlos: Der Nachbar beginnt spät mit dem Baumschnitt, seine Leiter steht schief, dann erst erfolgt die entscheidende Kontrastierung  durch die Kraniche hoch oben, deren Wahrnehmung jedoch schnell und erneut abgebrochen wird. Sie erscheinen nicht erhaben, entführen nicht „aus einem Leben in ein andres Leben“ wie bei den „Liebenden“ von Bertolt Brecht. Wahrgenommen wird vielmehr ihr durchdringendes Schreien, das die kurze Auszeit des Kopfhebens wieder zurückführt in die praktische Tätigkeit des Sägens.
  
Einer solchen Wahrnehmung liegt eine melancholische Haltung zugrunde, die sich durch das ganze Oeuvre von H.G. Bulla zieht und sich in einer weiteren Möglichkeit zeigt, das Innehalten auf eine andere Ebene zu transferieren, nämlich durch das Einschalten des lyrischen Ichs, das in einigen Texten explizit auftritt: „Der November macht mich krank, / er nimmt mir das Gedächtnis …“.  Typisch dafür ist ebenfalls die Selbstvergewisserung im poetologischen Gedicht: „Da liegt das Buch, das Heft, / dein Schreibzeug, dein / Werkzeug, der Blick aus dem / Fenster, auf den Regen, auf die / dunklen Bilder.“ Auch in den wenigen Gedichten, welche die unmittelbare Umgebung in Richtung Süden und Meer verlassen,  dominieren stille Momente, die oft auch von Verlassenheit geprägt sind.
  
Gegen das Zeitvergehen („Deine Zeit wird weniger, / jeder Tag stiehlt sich / seinen Teil“) wirkt ein Stück weit die Erinnerung, etwa in der liebevoll gezeichneten Figur des Vaters, auch er eine Konstante in Bullas Gedichten: „mein Vater schiebt das Rad, / ich hocke auf der Stange, umarmt von seiner Anstrengung / im morastigen Weg.“ Doch auch der Erinnerungstrost aus dem Archiv des Gedächtnisses hält nicht lange an, zumal manches aus der Vergangenheit nicht mehr heraufgeholt werden kann, wie etwa auf einem alten Bild, auf dem der Stempel des Fotografen „unleserlich verwischt“ ist.
  
Die häufige Verwendung von Wörtern wie „Schatten“ , „schwarz“, „grau“ bereitet schließlich auch die Begegnung mit dem Stillstand der individuell gegebenen Zeit vor, eine Begegnung, die in der für den Band überraschenden Drastik des Schlussgedichts gipfelt, das auf einen „alten Bericht“ über die Mumifizierung von  Toten Bezug nimmt: „Sie stellen sie in den Rauch, / der zieht die Säfte / lange aus dem Körper.“ Bezeichnend auch, dass in der Außer-Ordentlichkeit des Todes der bisherige, weitgehend heimatliche Bezugsrahmen durch die Hinwendung zu Riten der Naturvölker gesprengt wird, um ein Gegenbild zu unserer alltäglichen Verdrängung des Todes anzudeuten: „Wir hocken uns / zu ihren Füßen, / hören, was sie uns / erzählen und wie sie / singen.“ So schließt sich der Kreis aus Raum und Zeit, das Feld ist vermessen, in kleine Standbilder gefasst, Merktafeln gegen das Vergehen.
  
Peter Marggraf hat zum Thema sieben Kartondrucke mit Figurengruppen aus dem täglich geführten Skizzenbuch reproduziert. Er hat einen schwarz eingefärbten Karton auf Papier gedruckt, in einen gleich großen  die Linienzeichnungen  eingeritzt, ihn weiß eingefärbt und auf die schwarze Fläche gedruckt. Dadurch ist ein schwarz-blau schimmernder Grund mit schwarzen Linien entstanden. Thematisch offenbaren die Bilder zunächst einmal die Grundkonstellation, die für die Zusammenarbeit  von Autor und Künstler in der San Marco Handpresse gilt: Es gibt vielfältige Bezüge zwischen Bildern und Texten, aber Marggraf illustriert die Gedichte nicht, seine Arbeiten stehen und wirken auch für sich. Eine Gemeinsamkeit ist schon in den beiden Titeln „Wie an jedem Tag“ und „Sieben Tage“ vorgegeben: die Konzentration auf das Zeitvergehen Tag für Tag. Dem entspricht bei Bulla die verknappte Sprache, bei Marggraf die Reduktion auf wenige Linien, auf Umrisse. Einzelne Elemente der Gedichte werden bei den dargestellten Personen aufgenommen: „der Arm, der die Brust kreuzt“; eine zärtliche, den Kopf einer anderen Figur streichelnde Geste; die Konfrontation mit dem Tod – bildnerisch in der Totentanz-Tradition als Gerippe dargestellt. Gleichzeitig wird in Bezug auf die Figuren ein wichtiger Unterschied erkennbar: Beim Künstler geht es immer um die Darstellung einer Figurengruppe in verschiedenen Variationen: einander zugewandt, abgewandt, teilweise ineinander geblendet, die Köpfe unterschiedlich groß. Und dann die Farbe: Das Grau-Blau der Kartondrucke, an das sich auch das Vorsatzblatt und die Titelei anlehnt, changiert zwischen Kühle und intensiverer Verdichtung und spiegelt so den Fluss der Tage und ihre kleinen Augenblicke und Begegnungen, die es festzuhalten gilt.
  
Peter Marggraf setzt mit diesem Band konsequent die Linie der libri bianchi fort, die sich unter das Motto ‚Vielfalt in der Einheit‘ stellen lässt: ein einheitliches Gesicht durch das gleiche Format, das weiße Cover, die jeweils 100 nummerierten und signierten Exemplare, die reproduzierten  Bebilderungen von Originalstöcken. Andererseits bringt er darin historische Texte neu zur Geltung oder bietet zeitgenössischen Autorinnen und Autoren eine Plattform, die er mit eigenständigen, immer wieder überraschenden Bildern kontrastiert.