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i libri bianchi band 71
DAS GESICHT DER NACHT
Gedichte von Hannah Arendt und
Scherenschnitte von Peter Marggraf

 

Von Evelin Eberle

 

 

„Des Glückes Wunde
heisst Stigma, nicht Narbe.
Hiervon gibt Kunde
Nur Dichters Wort.
Gedichtete Sage
ist Stätte, nicht Hort.“
(Hannah Arendt)

In der Reihe „I libri bianchi“ erscheint ein neuer Band, der eine überraschende Seite der großen Denkerin Hannah Arendt sichtbar macht: ihre Gedichte. Zusammengetragen und sorgfältig ediert, zeigen sie eine sehr persönliche, poetische Stimme, die neben ihrem bekannten philosophischen Werk bisher kaum wahrgenommen wurde. Begleitet werden diese Texte von Scherenschnitten des Künstlers Peter Marggraf, die eigens für diesen Band geschaffen wurden und dem Thema „Das Gesicht der Nacht“ gewidmet sind. Die Verbindung von Wort und Bild eröffnet ein Spannungsfeld, das die Gedichte Arendts in einen neuen ästhetischen Raum stellt.
Hannah Arendt wurde am 14. Oktober 1906 in Linden bei Hannover geboren. Aufgewachsen in einer assimilierten jüdischen Familie, zeigte sie schon früh eine große geistige Begabung. Sie studierte Philosophie, Theologie und Griechisch. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Arendt wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt. 1933 floh sie zunächst nach Paris. Dort lernte sie auch ihren späteren Ehemann Heinrich Blücher kennen. 1941 gelang ihr mit ihm die Flucht in die Vereinigten Staaten, wo sie sich in New York niederließ.
In Amerika begann Arendt ihre Karriere als politische Theoretikerin. Sie arbeitete als Journalistin, Redakteurin und Universitätslehrerin. Ihre Bücher machten sie international bekannt: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) gilt bis heute als eine der wichtigsten Analysen des Totalitarismus, während „Vita activa“ (1958) eine tiefgreifende Untersuchung der Bedingungen menschlichen Handelns vorlegte. Arendt starb am 4. Dezember 1975 in New York. Ihr Werk bleibt ein unverzichtbarer Bestandteil politischer und philosophischer Debatten.
Weniger bekannt ist, daß Arendt auch Gedichte schrieb, vor allem in den 1930er und 1940er Jahren, während der Zeit des Exils. In diesen Gedichten spiegeln sich Erfahrungen von Heimatverlust, Fremdheit und Entwurzelung, aber auch Momente der Hoffnung und der Selbstbesinnung. Ihre Sprache ist dicht und bildreich, teils vom Expressionismus geprägt, teils von klassischer Strenge.
Die Gedichte geben Einblick in eine Seite von Arendt, die hinter der analytischen Schärfe ihrer philosophischen Schriften oft verborgen blieb: eine verletzliche, tastende Stimme, die im poetischen Ausdruck nach einem Halt in der Welt suchte. Gerade darin liegt ihr Reiz – sie lassen die Denkerin auch als Künstlerin erkennen, die mit Worten nicht nur argumentierte, sondern auch verdichtete Bilder und Klänge schuf.
Einen Höhepunkt in Arendts öffentlichem Wirken bildete ihre Berichterstattung über den Eichmann-Prozeß in Jerusalem im Jahre 1961. Die „New Yorker“ bat sie, den Prozeß zu beobachten und in einer Serie von Artikeln zu kommentieren. Arendt reiste nach Israel und verfolgte die Verhandlungen gegen Adolf Eichmann, den Organisator der Deportationen in den Tod.
Aus dieser Erfahrung entstand das Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ (1963). Darin prägte sie den viel diskutierten Begriff von der „Banalität des Bösen“. Eichmann erschien ihr nicht als dämonischer Massenmörder, sondern als ein funktionaler Bürokrat, unfähig zu eigenem Denken, der blind Befehle ausführte. Diese Deutung löste weltweit heftige Kontroversen aus. Viele warfen Arendt vor, sie habe die Opfer vernachlässigt oder den Tätern zuviel Verständnis entgegengebracht. Doch gerade die Provokation machte ihr Buch zu einem Schlüsseltext des 20. Jahrhunderts.
Für den neuen Band mit Arendts Gedichten hat der Künstler Peter Marggraf eine Serie von Scherenschnitten geschaffen. Marggraf ist als Drucker, Zeichner, Bildhauer und Büchermacher bekannt, dessen Arbeiten stets eine enge Verbindung von Kunsthandwerk und geistigem Anspruch aufweisen. Die Scherenschnitte zum Thema „Das Gesicht der Nacht“ bestehen aus schwarzem Papier, das er sowohl riß als auch schnitt, um figürliche Darstellungen im Format 30 x 42 cm zu gestalten. Durch die Verbindung von Schärfe und Bruch, von Linie und Fläche, entsteht eine kraftvolle Bildsprache, die die Gedichte Arendts um eine visuelle Dimension bereichert.
Scherenschnitte haben in der bildenden Kunst eine lange Tradition. Im 18. und 19. Jahrhundert waren sie eine populäre Form häuslicher Kunst. Im 20. Jahrhundert erhob Henri Matisse die Technik zu einer neuen, modernen Ausdrucksform. Seine berühmten „papiers découpés“, die er in den 1940er und 1950er Jahren schuf, zeigen, wie aus der Reduktion auf Schnitt und Farbe eine radikale Bildsprache entstehen kann. Marggrafs Arbeiten stehen in dieser Tradition, zugleich aber entwickeln sie eine eigene, zeitgenössische Handschrift. Während Matisse mit leuchtenden Farbflächen arbeitete, konzentriert sich Marggraf auf das Schwarz des Papiers und die Spannung zwischen Riß und Schnitt. So entsteht ein Wechselspiel von Dunkel und Licht, von Figur und Leere, das mit Arendts Gedichten in einen fruchtbaren Dialog tritt.
Das Zusammenspiel der beiden Ausdrucksformen – Arendts Poesie und Marggrafs Scherenschnitte – macht den besonderen Reiz des Bandes aus. Arendts Worte tragen die Erinnerung an Entwurzelung, Verlust und Neuanfang, während Marggrafs Bilder durch ihre klare, harte Formensprache eine visuelle Verdichtung derselben Themen schaffen. Das „Gesicht der Nacht“ erscheint als Metapher für Abschluß, Dunkelheit, aber auch für die Möglichkeit eines neuen Beginns.
Die Einbindung dieser Scherenschnitte in das Buch entspricht dem Geist der Reihe „I libri bianchi“, die sich stets der Verbindung von Literatur und Kunst verschrieben hat. Der Band ist damit nicht nur ein literarisches, sondern auch ein kunsthandwerkliches Objekt, das die Tradition des bibliophilen Buches fortführt.