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Siebzehn Jahre „Poesie und Alltag"
Kurze Geschichte eines langen Gesprächs

Sie waren schon längst „ein Gespräch“, hatten ihre „Werkstatt“ eingerichtet und ihre „Rituale“ ausgebildet, bevor sie einen Namen für ihren literarischen Freundes- und Arbeitskreis eher zuließen als bestimmten: Oskar Ansull, Hans Georg Bulla, Georg Oswald Cott, Hugo Dittberner, Heinz Kattner, Wilhelm Steffens, Johann P. Tammen und Hannelies Taschau. Im März 2009 erschien in der San Marco Handpresse die Gruppenanthologie „Seit ein Gespräch wir sind“. Bei der Vorstellung des Buches im Burghof Rethem/Aller erinnerte Wilhelm Steffens an die Umstände der Gründung und die bisherige Entwicklung der Gruppe „Poesie und Alltag“. Für den Abdruck in dieser Zeitung hat der Autor seine Rede gekürzt und überarbeitet.

 

Von Wilhelm Steffens

(…) erzählen davon, was es auf sich hat mit unserer literarischen Gruppierung, wie sie sich bildete, ungewöhnliche Dauer gewann, wie sie sich selbst versteht und warum heute hier und nicht an anderem Ort eine Lyrik-Anthologie der Freundesrunde und Autorengruppe „Poesie und Alltag“ wortwörtlich frisch aus der Presse kommt, Premiere hat.
Seit ein Gespräch wir sind …
... dieses Zeilenfragment aus Hölderlins Gedicht titelgebend für unser Buch, taugt wohl auch zum Einstieg in eine kurze Geschichte eines langen Gesprächs, zumal es aufs schönste korrespondiert mit einer anderen titelgebenden Zeile:
Wovon wir sprechen wollten …
… so heißt die kleine „Lüneburger Anthologie“ aus der Handpresse des holländischen Büchermachers Eric van der Wal, die 1995 herauskam. Da dauerte unser Gespräch drei kurze Jahre, und einen Namen hatte unsere Gruppierung noch nicht. Im Nachhinein freilich läßt der Name sich schon ablesen aus den Nachsätzen zu dem Buch, mit denen Hans Georg Bulla als Lektor und Herausgeber knapp skizziert hat, was uns zusammenführte, was uns zusammenhält: „Sie sprechen über Landschaft und Natur, über aufkommende Gewalt und den Umgang mit neuen Gewaltverhältnissen in dieser Gesellschaft, über Schreib- und Literaturgenerationen, über Lebensmuster, die eigenen und die anderen, über Alltag und Poesie“. Im Jahr davor, 1994, hatte es eine Ausstellung mit Bildern und Büchern Eric van der Wals im Lüneburger Heine-Haus gegeben. Eric van der Wal hatte die Rede gehalten: „Was macht ein Holländer in der deutschen Literatur?“, und wir acht Autoren hatten Gedichte vorgelesen. Die meisten unter uns hatten damals schon längst Einzeltitel bei Eric van der Wal. Inzwischen trifft das für alle zu, und Eric van der Wal ist spätestens „seit Lüneburg“, wo er auch während dreier Tage mit in unserer Runde saß, ein „Logenbruder“.
Ähnlich verhält sich das jetzt mit Peter Marggraf. Auch für ihn, für seine „San Marco Handpresse“ ist Hans Georg Bulla als Lektor und Herausgeber in Erscheinung getreten seit einigen Jahren, hat auch eigene Bücher bei Marggraf herausgebracht und u. a. auch Bücher von Autoren, die der Gruppe „Poesie und Alltag“ angehören.
Es gibt weitere Parallelen: Erinnerte 1995 der Untertitel „Kleine Lüneburger Anthologie“ an die Stadt, deren Heine-Haus mehr und mehr zu unserem festen „literarischen Ort“ geworden war (eines von bis zu vier jährlichen Treffen fand immer dort statt), so verweist „Seit ein Gespräch wir sind“ (bei spezieller Lesart) auf die gehörige Zeitstrecke, die wir inzwischen zurückgelegt haben und auf der wir (für die Vorstellung der Anthologie im Rahmen einer Ausstellung mit Bildern, Skulpturen und Büchern von Peter Marggraf, wobei sich wie damals in Lüneburg ein Arbeitstreffen anschließt, an dem unser Büchermacher teilnimmt) noch einmal an einen anderen literarischen Ort, den unseres Anfangs, zurückgekehrt sind, nach Rethem an der Aller also.
Hier hat das alles begonnen mit einem Pfingsttreffen im Jahre 1992. Freilich hat auch dieser Anfang noch eine Vorgeschichte. Seit 1989 gab es in Rethem ein von mir verantwortetes „Stadtschreiberprogramm“, in dessen Rahmen viele Autoren in die kleine Stadt kamen, die damals noch nicht über ein Kulturzentrum verfügte. Die Errichtung des „Burghofs“ war allerdings immer schon im Blick bei der Entwicklung neuer kultureller Aktivitäten. Zwischen 1989 und 1992 mußte räumlich, organisatorisch und finanziell oft abenteuerlich improvisiert werden, um der Literatur Raum geben zu können. Aber die Autoren kamen und fanden ein Publikum. Unter ihnen Ernest Wichner, Adam Seide, Lioba Happel, Oskar Pastior, Hans Joachim Schädlich. Dann Hans Georg Bulla und Johann P. Tammen. Die Begegnung mit den beiden Letztgenannten war besonders folgenreich. Unabhängig voneinander hatten sie mir erzählt, es gebe da in Niedersachsen etliche Autoren, die sich wünschten, man fände Ort und Gelegenheit zu intensiverem Austausch. Könnte etwa das kleine Rethem der Ort sein, für einen Anfang zumindest, den die Literatur suchte? Das hätte dann einen doppelten Nutzen, einen für die Autoren, den anderen für den Ort im Hinblick auf die inzwischen in heftigem Gang befindliche Debatte um seine kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten. Rat und Verwaltung der nahezu mittellosen Kommune ließen sich überzeugen, sagten die nötige finanzielle Unterstützung zu, und ich konnte 1992 unter der Parole „Literatur sucht einen Ort“ zum literarischen Pfingsttreffen über drei Tage einladen. Wir, zu achten inzwischen, konnten es anpacken, kamen zusammen, aßen, tranken und schliefen in einem Gasthof in Altenwahlingen, hielten Werkstattgespräche bei Spaziergängen in der Allermarsch und in der kleinen Rethemer Stadtbücherei ab, lasen vor Publikum im damaligen Häuslinger „Asyl der Kunst“ des Malers Manfred Bartling. Die Gruppe war geboren und mit dem Anfang auch schon das Grundmuster ihrer Arbeitsweise entwickelt: Gespräche – natürlich – über den Literaturbetrieb, über Kulturpolitik, also über das Berufsständische; dann – und nicht zuletzt – über Erfahrungen und Lebensmuster; und immer und im Kern das einlässliche Hören und Lesen neuer Texte aus der Runde und das schöne und schwierige, das freundliche und geduldige, das kritische, also das unterscheidende, das gelegentlich verwerfende, das niemals verächtliche Gespräch über unsere Gedichte.
Rasch war klar: gut Ding will Weile, sprich: diese Kollegialität muß Dauer haben. Aber wie, aber wo? Da war denn das kleine Rethem als „Ort der Literatur“ doch überfordert. Später gab es hier noch ein zweites Gruppentreffen, aber ohne öffentliche Förderung. Und es gab immer mal wieder auch nach dem Ende des Stadtschreiberprogramms aufgelegte kleine Serien von Lesungen, in deren Rahmen dann nach und nach neben anderen Autoren fast alle Gruppenmitglieder hier ihren Auftritt hatten, sinnfälligerweise auch bei der allerersten Veranstaltung zur Eröffnung des „Burghofs“ vor einigen Jahren.
Die Treffen, meistens vier im Jahr, im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter, mal nur einen Tag, aber mindestens einmal jährlich auch über ein ganzes Wochenende, fanden jetzt an wechselnden Orten statt. Häufig erfuhren wir gastfreundliche Aufnahme und gelegentlich finanzielle Unterstützung an traditioneller Literaturstätte, sei es in Wolfenbüttel, im Braunschweiger Raabe-Haus, in Worpswede oder im Künstlerhof Schreyahn. Wir waren auch schon im Jagdschloß Göhrde, im Kloster Loccum und mehrfach auch außerhalb Niedersachsens, in Mecklenburg nämlich, auf Schloß Kaarz.
Unser Stammhaus aber ist seit vielen Jahren das Heine-Haus in Lüneburg. Geöffnet hat es uns Heinz Kattner, seinerzeit Leiter des Lüneburger Literaturbüros. Zunächst als Hausherr übernahm er Organisation und Moderation unserer Treffen und Werkstattgespräche. Heinz Kattner verstand es auch, uns das Haus über seine Lüneburger Amtszeit hinaus offenzuhalten, und Vorbereitung und Moderation unserer Gespräche sind bei ihm geblieben.
Inzwischen konnten wir längst schon das fünfzigste Werkstattgespräch (in Worpswede und zu Teilen aufgezeichnet von Radio Bremen) abhalten (und ein wenig feiern).
Wir werden oft gefragt, wie es wohl komme, daß wir schon im siebzehnten
Jahr „ein Gespräch“ sind. Ich denke, das liegt an etwas, das sich bereits in unserem Namen niederschlägt, einem Namen, der jahrelang gar nicht existierte und der jetzt alles Mögliche bezeichnet, nur kein „Programm“. Wären wir mit einem „Manifest“ gestartet, mit irgendeiner gemeinsamen Formulierung einer gemeinsamen Überzeugung davon, was und wie geschrieben werden müsse – wir wären längst wieder auseinandergelaufen.
Nein, wir respektieren unsere Verschiedenheit. „Themen“ und „Meinungen“ sind fast nie, immer aber Wörter und Formen Gegenstand unseres Miteinanders im Arbeitsgespräch.
Eines vielleicht eint uns denn doch gewissermaßen „programmatisch“: das ist die Liebe zum „handgemachten“ Buch, gesuchte Nähe zu den künstlerischen Büchermachern also, wie Eric van der Wal, wie Peter Marggraf zum Beispiel. Nicht, weil wir Nostalgiker wären, sondern weil wir in deren Büchern, die Einzelstellung des Gedichtes finden, das Aufmerksamkeit stiftende Gelände, den wahrhaft „literarischen Ort“..