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Seit ein Gespräch wir sind ...
Eine bibliophile Anthologie aus der San Marco Handpresse
Gedichte der Autorenrunde „Poesie und Alltag“

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Von Gerd Kolter

Dichterfreundschaften? Konstruktive handwerkliche Gespräche einer Schriftsteller-Gruppe über Jahre hinweg? Gibt es das wirklich noch oder behält Karl Varnhagen von Ense recht mit seinem Diktum: „In der Literatur geht es nicht wie in einer Teegesellschaft zu; die Literatur ist ein Schlachtfest und eine Schandbühne, es gibt Wunden und Stiche in Menge ...“ Dichterbeschimpfungen kennen wir zuhauf, goutieren sie ja auch in ihrem Witz oder belächeln sie in ihrer oft neidvollen Maßlosigkeit. Aber daß ein für die literarische Produktion zweifellos nötiger Narzissmus eben nicht aus dem einsamen Arbeitszimmer heraus Gift und Galle gegen vermeintliche Minderdichter speit, sondern sich mit den Kolleginnen und Kollegen auf Augenhöhe einläßt – das verdient ausdrückliche Erwähnung in unseren Zeiten der eitlen Selbstbespiegelung.
Ein Beispiel dafür haben wir vorliegen, ein Beispiel, das die vielen Facetten freundschaftlicher Dichterbegegnungen um eine weitere bereichert: Seit fünfzehn Jahren treffen sich Oskar Ansull, Hans Georg Bulla, Georg Oswald Cott, Hugo Dittberner, Heinz Kattner, Wilhelm Steffens, Johann P. Tammen und Hannelies Taschau zu den Jahreszeiten vor allem in Lüneburg. „Sie treffen sich und sprechen über Texte und Bücher, über Schreib- und Literaturgenerationen, die eigenen und die anderen, über den Alltag und die Poesie“ – so H. G. Bulla in seinem Nachwort zu dem Band, den es hier vorzustellen gilt. So weit, so bekannt von anderen Gruppen mit ähnlicher oder häufigerer Frequenz, auch wenn hier, wie auch der Name der Autorenrunde – „Alltag und Poesie“ – nahe legt, der Erfahrungsaustausch breiter angelegt ist als bei reinen Gesprächen über Formen und Inhalte. Was aber neu ist, dokumentiert das vorliegende Buch: Jeder der Autoren hat aus den Konvoluten der anderen jeweils ein Lieblingsgedicht herausgesucht. Wir kennen die Konvolute nicht, nicht die Gespräche zuvor, das Reden über das Handwerk, den Alltag vor und nach der Runde. Was wir haben, sind 8 x 7 Gedichte, insgesamt und in der jeweiligen Auswahl streng nach dem Alphabet der Autorennamen präsentiert, ein strenges Spiel also. Warum ein Spiel? Weil wir natürlich nicht nur eine kleine Auswahl an Texten der jeweiligen Autoren vor uns haben, sondern uns – davon ausgehend – sofort auf die Suche danach begeben können, warum ein Autor, der so schreibt, nun ausgerechnet jenes Gedicht eines anderen ausgesucht hat. Und dabei gibt es noch die reizvolle Variante, daß Gedichte einem Autor der Runde gewidmet, aber eben nicht von diesem ausgewählt wurden – was allerdings nicht zur Vermutung Anlaß geben sollte, der Adressat sei mit dem ihm gewidmeten Gedicht nicht zufrieden gewesen ...
Ein Buch also, um auf die Suche zu gehen, nicht mit einem Klick, sondern mit der Muße, die Gedichte nun einmal brauchen, jene, auf besondere Art ausgewählte zumal. Aber diese Muße hat der Rezensent nicht. Er kann nur noch einmal auswählen: 8 aus 56 – nicht zufällig gezogen, sondern streng alphabetisch, wie sich’s bei diesem Buch gehört – aber nach seinem Geschmack und hoffentlich im Dienste der Vielfalt:
Da vermittelt uns Oskar Ansull etwa ein „Kunstgebild der echten Art“ (E. Mörike), nimmt dessen Gedicht „Auf eine Lampe“ ebenso auf wie Matthias Claudius’ „Abendlied“ und hebt das alte Thema von Licht und Dunkel, von Schein und Sein gar nicht gedankenschwer, sondern im Spiel mit Synästhesien auf eine eigene, neue Ebene: „oh hörbar / schöne finsternis / dank gedachter lampe // und in der dämmerung hülle / geht claudius dahin / wie so manche Dinge“ (GRUSS AN KORF).
Hans Georg Bullas Gedicht APRIL geht dagegen von einer alltäglichen Momentaufnahme aus, einem Blick über den Zaun auf die Kirschblüte. Dieser Augenblick wird dann mit wenigen Strichen zum angehaltenen Bild: „Die Nachbarn / sind verreist auf länger. / Die Bläue über dem Haus und / das kleinteilige Weiß davor.“ Aber es bleibt nicht dabei, das statische Bild setzt die schmerzhafte Erinnerung in Gang: „So blühten die Kirschen, als / mein Vater beerdigt wurde.“
Jener Blick, der Assoziationen, Reflexionen auslöst – er findet sich auch bei Georg Oswald Cott, jedoch sind seine Gedichte epigrammatischer verkürzt, oft in wenigen Verspaaren zugespitzt: „RUNDUM Ruhe als sei / die Stillzeit verlängert // wir verweilen / und neigen uns zu // kein Ränkespiel / zwischen den Halmen // weithin leuchtet der Raps / blüht über und über gelb.“ Die Begegnung der beiden,
ihre Einbindung in die umgebende Natur – dieses traditionelle lyrische Motiv wird auf die nötigsten farbgebenden Worte zurückgenommen.
Wieder anders das poetische Verfahren in Hugo Dittberners Gedicht SEHNSÜCHTIG: Die Leichtigkeit einer Feder am Strand wird in den folgenden Strophen immer wieder neu variiert, auf den Wind bezogen, der „schließlich personifiziert“ eine vorher nur angedeutete („ein frischer Gedanke“) übertragene Bedeutung erhält: „Weiß mit einem schwarzen / Strich soll der Nachtatem / sie aus dem Traum tragen.“
Mit Heinz Kattners hier abgedruckten Texten bewegen wir uns – mit einer Ausnahme – im Bereich der lyrischen Prosa, in jenem Übergangsbereich also, der wortreicher schildert und sich doch immer noch das Recht auf Verkürzung vorbehält. Bei Kattner kommt noch hinzu, daß er – schon in der gewählten Perspektive („Er“) - eine reflektierende Distanz einhält: „Wenn lange genug das Schweigen dauert, wenn er, kleiner werdend, den Kopf schräg hält, den Blick zurücknimmt aus dem Fernliegenden, in eine Ecke auf eine Bretterwand richtet, wenn nur das alte Holz noch das Auge beschäftigt: Äste, Risse, Maserung, wenn auch diese Namen verklungen sind auf dem Platz, auf den sich mit dem Körper die Sinne begrenzt haben, dann können andere Wörter aufsteigen ...“.
Dagegen wird in Wilhelm Steffens Gedicht WEISS das lyrische Ich von Anfang an in den Mittelpunkt gestellt, was aber nicht unbedingt typisch ist für die übrigen ausgewählten Gedichte. Die Verbindung mit dem Schreibprozess („Ich will die Bögen leer / schreiben...“) eröffnet eine weitere Ebene in diesem Band, die Sehnsucht nach der Unbedingtheit des Schreibens (und Lebens), hier eingefangen in kühnen Kontrasten: „das schattenlose / Weiße wo mich nichts umfängt / als die Musik der ungeteilten Zwischenräume // wo im Schweigen des verglasten Sandes / ohne Maß das Echo brennt der unerhörten Helle“.
Kühne Metaphorik ist auch ein Stichwort für Johann P. Tammen. Verschiedenste Bereiche werden verklammert („Eisigkleid“, „bitter süß gesalbte Ohrgenüsse“) und entweder lose assoziativ hintereinandergestellt oder sie verfremden bekannte Vorgänge: „Der Furchen zog liest Wetteralben / er ist schon in der Hocke teilt / sein Brot und nennt was Atem hat / den Vogelflug mit Augengold / die Ziege hätschelnd.“
Ein letztes Verfahren in den vielen Facetten des poetischen Handwerks: die ALTE(N) MOTIVE von Hannelies Taschau: Objets trouvés, d. h. hier alte Ansichtskarten aus Mecklenburg, die Vorderseiten beschrieben, die Rückseiten zitiert. Hier ist der künstlerische Zugriff auf das Finden und Auswählen reduziert, aber aus dem Vorgefundenen ergeben sich so viele Geschichten und andere Bilder in den Köpfen der Leser: „Achliebe Er-na es ist ein Mann-da er / kamganz lei-se durch d’ Küchentür“ heißt es auf einer Rückseite, und auf der nächsten: „Wenn du so willst wie ich dann / wollen wir beide nicht.“ Keine unbedingt typischen Texte für H. Taschau, aber letzte Beispiele für lyrische Verfahren, welche die handwerklichen Diskussionen der Gruppe immer wieder bestimmt und befruchtet haben mögen.
Einer fehlt uns noch, ein ganz Wichtiger: der Gestalter des Bandes, Peter Marggraf. Ein bibliophiles Buch ist es geworden, wie bei Marggraf nicht anders vorstellbar, aber was für eins! Er und H. G. Bulla haben eine Typographie und Seitengestaltung konzipiert, die ganz klar und nicht schnörkelnd die Texte präsentieren, sodaß Marggrafs Radierungen aus der Werkgruppe „Fieber – Francisco Goyas Hölle“ in ihrem unglaublichen [Vergebung!] Blau ihre Komplementärwirkung voll entfalten können.
Als weiteres überraschendes Gestaltungselement hat Marggraf die Buchdecken mit einer Originalradierung in ebendiesem Blau (!) bezogen, die unter dem Transparentpapier des Einbands mit Titel und Autorennennungen zu entdecken sind. Hans Georg Bulla hat in seiner Rede zur Buchpremiere und Ausstellungseröffnung mit Werken von Peter Marggraf im Burghof Rethem vom „Handarbeiter im alleranspruchsvollsten Sinn“ gesprochen. Das Handwerk des Schreibens, das Handwerk des bildenden Künstlers, sie sind hier eine enge Verbindung eingegangen – einander ergänzend, einander respektierend.