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Mit dem Schrei eines Esels
Zu den Gedichten von Peter Piontek

Clemens Umbricht

„Ich bin eigentlich ein Esel! / Mit dem Herzen eines Esels und dem Schrei eines Esels!“ lautet das Zitat von Lars Gustafsson, das Peter Piontek seinem neuen Gedichtband vorangestellt hat. Der störrische Vierbeiner – um einen „goldenen Esel“ handelt es sich in der Novelle des römischen Dichters Apuleius, um einen „grünen Esel“ in der Ballade Christian Fürchtegott Gellerts, Platero heißt er bei Juan Ramón Jiménez und einfach nur ein Esel ist und bleibt er in Aesops Fabel – er hat es literaturgeschichtlich faustdick hinter seinen samtweichen Ohren. Vielleicht deshalb ließ ihn Matthias Claudius reimend ia-en: „Ah, die Natur schuf mich im Grimme, / sie gab mir nichts als eine schöne Stimme.“
Nach „Verläßliche Schatten“, „Ins aufgegebene Land“ und „Nach der Natur“ handelt es sich beim neuen Buch um den vierten Gedichtband des 1955 geborenen, in Hannover lebenden Dramaturgen und Journalisten Peter Piontek. Was nun haben, abgesehen von der markanten Doppelung von Titel und Eingangsmotto, die 15 darin versammelten Gedichte mit einem Esel, seinem Herz und seinem Schrei zu tun? Störrisch, sensibel, stoisch, lastenstark und eigensinnig –all dies schreibt man gemeinhin dem langohrigen Grautier zu. Indessen, Eseleien sind keineswegs nur tierische Unterfangen. Und ob, wie Boethius in seinem „Trost der Philosophie“ schreibt, „dem Esel der Träge und Stumpfsinnige ähnelt“, ist für das in der Regel freundliche Tier nicht wirklich erwiesen. Assoziierte man mit Peter Pionteks Gedichten Eseleien im Sinne von lyrischen Narreteien und Nichtigkeiten, so läge man falsch. Das Gegenteil ist der Fall.

„Eine Toreinfahrt ein gepflasterter Hof“

In der Tat beginnt der Band mit dem Gedicht „Mein Heim“ mit einer beinahe sachlich-emotionslosen Schilderung, an der zunächst nur die fehlende Interpunktion auffällt: „Eine Toreinfahrt ein gepflasterter Hof / Weiden hängen über den Weg / Eine Reihe junger Birken Autos oder / Ein leerer Parkplatz dann wäre heut Sonntag (...)“. Doch die Idylle trügt. Nach wenigen Zeilen wird sie jäh unterbrochen, allerdings nur, um gleich wieder einzusetzen: „Hier fiel im Krieg die erste Bombe / Auf Hannover die Katze stört die Amsel auf / die stiebt davon dann Stille im Hof.“
Mit der zweiten Strophe schwenkt die Kamera ins Wohnungsinnere, in die Küche und an den Schreibtisch. Verschachtelte Räume, belebte Welt. Zwischen Papier und Büchern steht der Laptop: „Ein Signalton Frog kündigt neue Mails / Mir an (...)“. Doch nicht nur den Eingang neuer E-Mail-Nachrichten vermeldet das elektronische Quaken, sondern das Eindringen des Irrealen: „Irreality / Ja ich habe dieses Wort / Gebraucht für Schleiertänze Skulpturen aus Seide und Licht (...)“. Das Irreale des Web entpuppt sich selber als Schleier und der Chatroom als eine seiner Falten: „What does it mean / Fragt kleo-at-isis-dot-web in New York / Schleiere weiter ich dringe nicht durch ...“.
In der dritten Strophe setzt die Reflexion ein, wird das erzählende Ich, frei flottierend zwischen Irreality und Reality, sich selber bewußt: „Wie kam ich hierher die Tauben die Glocken / Ich höre sie wieder habe sie überall gehört“. Er lese, bekennt er im folgenden Vers, „Willie Yeats“, den irischen Dichter, der in seiner Jugend Mythen und Motten studiert habe („who in his youth / Studied the myths and the moths“). Doch die Lektüre William Butler Yeats’, so vertraut sie das Kürzel des Vornamens erscheinen läßt, ist kaum mehr als das Aufzucken eines Blitzes. Auch das Rufen der Glocken und der Tauben klingt hohl. „Viele haben hier gewerkt gewohnt nur ich“, stellt der Autor in seiner Inventur der heimischen Umgebung lakonisch fest. Und: „Dies ist ein Ort für Kontoristen /Nicht für Bekennende.“

„Was ist die Zeit sie wird verbracht“

Die Sachlichkeit der Schilderung, die in „Mein Heim“ Wahrnehmung und Reflexion verbindet, entwickelt im Gedicht „Eine Art Hausmärchen“ einen faszinierenden Mutterwitz. Zwischen Blutdruckprotokoll, Magenknurren, Pate Drosselmeier, Gedanken beim Abwaschen und dem Philosophen Blaise Pascal öffnet der Text hinter-gründig humorige Falltüren ins blödelnde Nichts:
„oder meinen Sie Eierkuchen zum Beispiel sei eine tiefere Speise Gross/Mütterkunst Gedanken beim Abwaschen nicht nachweisbar das ist die Art wie die Titte nippelt / das ist die Art wie die Peitsche lascht / das ist die Art wie der Mäusekönig nascht / das ist die Art wie die Börse kracht (was ist die Zeit sie wird verbracht)“
Je weiter die kunterbunte Auflistung fortschreitet, desto mehr spürt man hinter dem Witz Trauer, ja Verzweiflung. Gekonnt versteht es Peter Piontek, die Schluchzer der Bewohner seines „Hausmärchens“ in vordergründig amüsante Redensarten zu übersetzen –Redensarten, die gerade dort ins spielerische Reimen kommen, wo die Leere in den Worthülsen besonders grell aufleuchtet.
Eine Fortschreibung des Hausmärchens findet man, vielfältig variiert, in weiteren Gedichten dieser hochkarätigen Sammlung. Sie berichten etwa von Thomas von Aquin, der einen Bogen in sein Pult sägen ließ, „um in seiner Leibesfülle daran Platz nehmen zu können / die geteilte Wahrheit zu denken“, vom Bekenntnis, daß er, der Erzähler, nicht Franz K. aus Prag sei, „aber eines Tages werde ich erwachen /und bin verwandelt“ oder schlicht vom Betrachten der heißen, aus der Pfanne gleitenden Spaghetti. Hier wie dort rapportiert der Kontorist und möchte das Leben Tag für Tag in einem „armen Gedicht“ festhalten. Doch seine Liebesmüh ist, wie er sich selber eingestehen muß, vergeblich. „Kein Gedicht stellt den Augenblick /wieder her“, heißt es im letzten Vers von „Zusehen wie Spaghetti“.

„Schwer / hebelt der Mensch an der Freiheit“

Und wo bleibt, bei all dem, der Esel? „Grisaillen“ heißt das Gedicht, in dem man explizit und gleichzeitig wie mit einem Blick durch bemaltes Glas auf den grauhaarigen Gefährten stößt. Hier heißt es im ersten Teil:

Mit dem Schrei eines Esels
empfangen werden im Salat
der Blaueblumesucher
aus Stein

Stein was zu dir spricht schwer
hebelt der Mensch an der Freiheit nichts
schaufeln die Mühlen sich zu

Als Grisaillen (franz. gris = grau) werden in der Glasmalerei Fenster bezeichnet, die ganz oder teilweise aus farblosem Glas bestehen. Da es im Mittelalter technisch nicht möglich war, vollkommen ungetrübtes Glas herzustellen, besitzen diese Scheiben in der Durchsicht einen grünlich-weißen oder ins Rosa oder Braun spielenden Schimmer. Was sich im Gedicht „Grisaillen“ zunächst als ironischer Seitenhieb auf die Romantik verstehen ließe (in der Wortfolge „schwer / hebelt der Mensch an der Freiheit“ meint man von fern auch Hölderlins Gestus zu vernehmen), entpuppt sich in leicht befremdlicher Optik als Begegnung mit dem besagten Haustier. Im „Salat der Blaueblumesucher“ stößt der schlaftrunkene Betrachter auf die „Tautropfensammlerin“, auf „des Morgens weiches Fleisch der Schnecken“ und schließlich auf Schriftzeichen auf einem Stein – „etwas vom Traum / mit dem Kopf eines Esels“, und zwar eines schreienden Esels.
Hier wie in den meisten Gedichten von Peter Piontek greift zu kurz, wer vorschnell glaubt, er habe die Assoziationen und Verweise des Autors entschlüsselt. Der Schrei des Piontekschen Esels ist kein eindeutiger Laut, sondern ein mehrstimmiges intertextuelles Gespräch. Es oszilliert zwischen Hymne und Elegie, wehrt die Eitelkeiten dieser Welt ab und beschwört gleichzeitig die Dinge. Von der Zeit und ihrem Nichtanhaltenkönnen ist darin die Rede – von der „Steinhaube Zeit“, wie sie Paul Celan einmal nannte – vom Verlust der Jugend, des Ichs, der Träume, vom Tod und von der Unmöglichkeit von Selbstbildnissen und Erlebnisgedichten. Scheinbar Banales findet sich neben Tiefsinnigem, und vom Gottesbegriff zum Finanzamt ist es gelegentlich nur ein kleiner Schritt. Es sind Gedichte wie kleine Erzählungen, die sich immer wieder in Frage stellen. Dennoch (oder gerade deshalb) halten sie mit einer Fülle von Bezügen und Anspielungen – auf William S. Burroughs’ / Tom Waits’ „Black Rider“, auf Brian Friels Theaterstück «Faith Healer», auf Jacques Prévert, auf Bodhidharma, auf Goethes „Faust“, auf René Magritte … – unbeirrt an ihrer poetischen Sinnhaftigkeit fest.