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FALLENDE HANDLUNG

 

Martin Selge

Um welchen Fall handelt es sich? Um ein neues Gedichtbuch des Göppinger Autors, der seit 1983 literarische Texte publiziert. Nach vier Lyrikbänden erschien zuletzt 1999 ein ‚Cross-over’: „Was er sich nur denkt. Gedichte und Kurzprosa“. Hans Georg Bulla, der beste Kenner von Kolters Gedichten, schrieb zum großen Sammelband „Ortsgedächtnis“ von 1997 das eindringliche Nachwort. „Lyrische Topographie“ und „Präzision“ sind darin Schlüsselkategorien, unter denen sich Inhalte (Natur, Orte) und Stilideal (Genauigkeit) Kolters begreifen lassen. In der Tat bringt dieser lyrische Topograph Sprachbilder zu Papier, als arbeite er in Stein: lapidar – in kurzen, ungereimten, rhythmisch freien Texten. Die haben laut Titel oft kennbare Orte zum Anlaß für hintergründige Ansichten: mehrschichtige Momentaufnahmen bedeutsamer Erlebnisse auf der Reiseroute des Lyrikers durch die Welt, von New York bis zur Insel Reichenau, im freundlich distanzierten bis grimmig humorigen Kolterton.

„Ortsgedächtnis“ bahnt im letzten Kapitel „Durchs Land“ eine Wende zur Gesellschaftskritik an. Die acht Gedichte über deutsche Zustände Ende der 90er Jahre enthalten Sätze wie Revolutionen / von langer Hand gelobt / wollen uns / gut unterhalten / wir haben nichts mehr / zu sagen oder Man tanzt wieder Tango / vor Langeweile oder Gegen den Fuß in der Tür / gibt es Sprechanlagen. Hier schreibt das neue Gedichtbuch weiter. Keine Naturschauplätze mehr, sondern gesellschaftliche Phänomene. Die zwanzig Texte hätte man früher „Zeitgedichte“ genannt. Begriff und Genre sind aus der Mode gekommen. Was bleibt, ist die Herausforderung, aktuelle Missbildungen mit den Mitteln der Poesie aufs Korn zu nehmen. Der nun entschieden vollzogene Paradigmenwechsel wurde dem Autor, wie mir scheint, durch eine Krankheitserfahrung nahegelegt. Es galt, nicht nur persönliches Leiden zu bearbeiten, sondern auch Symptome gesellschaftlicher ‚Krankheit‘ im Lebensumfeld.

Missstände kritisieren? Wir wissen doch zur Genüge, was faul ist im Staate Dänemark. Wohl wahr: Journalistisch sind wir überinformiert. Aber die Poe-sie ist kein Schrotgewehr wie Zeitungsartikel oder Fernsehshows. Sie ist ein Okular, das Ansichten liefert, die nicht aus Pixeln bestehen, sondern aus Wörtern in merkwürdigen Sätzen. Diese fiktiven Meinungen sind ein schönes und notwendiges Korrektiv zur journalistischen Weltsicht, die uns glauben macht, sie habe die Weisheit mit Löffeln gefressen. Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden ... Darum bedürfen wir der Poesie. Ein lyrischer Kopf macht sich, uns stellvertretend, seinen Vers auf die herrschenden Zustände. Dichter sind Seismographen für Risse / im Weltengebäude. So pathetisch erlaubt sich der Autor im Eröffnungsgedicht sein „Kopfzerbrechen“ ins Koordinatenkreuz der literarischen Tradition (Heine, Büchner) einzustellen.

Um welchen Fall handelt es sich? Genau gesagt um zwei Fälle: Da ist zunächst ein krankheitsbedingter ‚Aus-Fall‘, der hier mit sechs Texten nicht etwa bejammert, sondern quasi anekdotisch (grimmiger Humor) resümiert wird. Es folgt der allgemeinere Fallgesellschaftlicher Auswüchse, deren sich der Schriftsteller nun in einer Art polemischem Redeschwall gleichwohl liebevoll annimmt. (Immer erfreuen sich ja die bösen Figuren der besonderen Zuneigung ihrer Schöpfer.) „Eine Suada“ nennt er ironisch diese Textreihe, bestehend aus einem Vorspruch und dreizehn Situations- bzw. Gruppenschilderungen. Ein Mal sich ungestört alles von der Seele reden: daher Suada. Aber kein Gelaber. Es bleibt beim Stil der prägnanten Bilder und knappen Formulierungen. Beide Fälle zusammen heißen „Fallende Handlung“. Der Terminus stammt aus der Dramentheorie und bezeichnet jene Schlussphase der Handlung, die nach der Peripetie (Wendepunkt) unaufhaltsam fallend aufs Ende zuläuft – meisteine Katastrophe. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Leiden beschreiben ist Leiden therapieren. Nicht immer ist es spannend, wenn ein Schriftsteller von Krankheiten erzählt. Aber wenn er erzählen kann, sind Krankengeschichten Highlights der Unterhaltung. Diese beginnt mit unglaublichem Schädelbrummen („Kopfzerbrechen“): der Kopf als Seismograph von Erdbeben, als Verstärker / für Risse / im Weltengebäude. Dann die Lähmung („Ausfall“), wenn Auge und Lippe inkomplett (nur einseitig) herabhängen, zu tief / um als Skepsis / durchzugehen oder für ein Zwinkern / ein Grinsen / zu schief gelacht. Drittens („Spitzbreit“) eine sarkastische Trainingseinheit mit beflissener Therapeutin, die spitzbreit – spitzbreit – spitzbreit den Patienten zu extremen Mundbewegungen animiert; doch es geht aufwärts: Eins immerhin: / Das Auge schließt sich wieder / vor den Übeln der Welt. Im „Nervenbündel“ hören und sehen wir eine norddeutsche Assistentin, die in der Elektroabteilung ein koppheister gegangen(es) Kabel wieder anschließt und mit nur n büschen Druck den Schenkel des Halbgelähmten zum Zucken bringt, als ließe den in der Pfanne ... die Köchin ... tanzen / wild und wilder. Und plötzlich liegt man „In der Röhre“ zur Kernspintomographie, in der Hand eine Kinderhupe, um sich bei unerträglicher Angst bemerkbar zu machen; enttäuschendes Ergebnis, das die kreißende Röhre / am Ende entlässt: ein Hirn, harmlos wie eine Walnuss ... viel zu rein für Kratzer / Spuren und Narben. Was bleibt „Alles in Allem“? Gequält werden wie ein kleiner Junge, der seine Medizin einnehmen mußte – Tröpfchen für Tröpfchen, ohne daß man, damals wie heute, im Spiegel / die Faust, die ihn gepackt hat, zu Gesicht bekäme.

Das Original reicht tiefer als die aufs Oberflächliche reduzierte Nacherzählung. Auch bis zur Ursachenforschung? Aus dem letzten Text läßt sich eine Antwort auf die Frage nach dem Grund der Lähmung herauslesen. Es ist jene imaginäre Faust von Autoritäten (Du / stehst jetzt still / Bub / und keine Ausflucht / wir ham dich am Kragen / nach unsrer Pfeife / tanzt du jetzt / wir wolln doch schließlich / nur dein Bestes / und machen dich fit / fürs große Ganze), die uns nicht losläßt und lebenslang lähmt – im Normalfall nur innerlich, mehr oder (meist) weniger merklich.

Die Textreihe „Eine Suada“ kann nicht nacherzählt werden: Beispiele müssen genügen. Der Vorspruch bringt das Problem des Einzelnen in der Masse so auf den Punkt: Wer aber / kann / etwas sagen / was zu hören wäre / wer aber / hört / im Chor / ein Wort. Auf den Punkt gebracht ohne Punkt: Satzzeichen brauchen diese Gedichte nicht. Die rückwärtsgewandte Pause am Ende der Zeile, das sinnverändernde Enjambement in die nächste genügen, um der eben verlassenen oder neu erzeugten Bedeutung nachzusinnen. Kann zum Beispiel. Es ist wirklich unmöglich für den Einzelnen, im Chor ein Wort zu sagen, was zu hören wäre. Auch was er schreibt, der professionelle Subjektivist, wird nicht verstanden werden, wenn die Chöre das Sagen haben.

Zum Beispiel das lange Gedicht in der Mitte, die Achse Nr. VII, das sich, zumal nach der fetzigen Party-Satire Nr. VI, abhebt durch dunklere Tönung: Jener Drang / zum schwarzen Loch / die Gier nach dem Abspann / wenn sie nicht nur / ein Abgrund ist / an Müdigkeit / ein Zergehen / im tiefen Schlaf / jener Rausch / vielleicht noch zurück / vielleicht auch nicht / alles / auf eine Zahl // Denn den eigenen Tod / gibt es nicht / wir wissen es besser / wir haben ihn nur / bei den anderen gesehen / weit hinten / hinter den Bergen / oder hinter der Scheibe / ganz nah / ganz echt / ganz unwirklich // So stehen wir auf / und gehen hinaus / aus der heimischen Wildnis / wenn sie uns / genug erregt hat / das können wir / das spüren wir / ganz genau / denn was ist uns bisher / schon passiert. Fünfmal wir und einmal uns – so dringlich einbezogen ins Gedicht wird der Leser sonst nirgends in der „Suada“. Das ist die Mitte: Wir sind gemeint. Wir sitzen im selben Boot mit den Todessehnsüchtigen, den Todesspielern, wir Todverharmloser, Todwegschieber. Wir glauben jederzeit rauszukommen aus der heimischen (Internet-?) Wildnis. Wo hinaus? Auf die Straße zu den andern? Wieder selbstbestimmt zu uns selbst? Das genaue Gespür könnte uns täuschen. Plötzlich könnte es nicht mehr gelingen, das Hinausgehen... Sorge um die Opfer totaler Virtualisierung grundiert die drei Strophen, Besorgnis, wohin solcher Realitätsverlust führen mag. Moralismus ist auch eine Dimension der Kolterschen Poesie.

Das Motto von Ossip Mandelstam hält die Katastrophenperspektive des Titels schön in der Schwebe zwischen Realität und poetischer Abbildung: Wo beginnen? / Alles kracht in den Fugen und schwankt. / Die Luft erzittert vor Vergleichen. / Kein Wort ist besser als das andre ... Erschienen ist das neue Gedichtbuch von Gerd Kolter in bibliophiler Ausstattung, wie schon vier der früheren; diesmal nicht bei Eric van der Wal, sondern in der San Marco Handpresse von Peter Marggraf – allerdings hier wie dort sorgfältig lektoriert von Hans Georg Bulla. Das edle Buchkunstprodukt im Großformat ist bereichert mit zwei am Ende lose beigelegten (Kaltnadel-) Radierungen des Bildhauers Peter Marggraf: „Ohne Titel, 2004“. Die hellen Halbprofilköpfe mit Schulteransatz vorm Dunkel eines unregelmäßigen Gitternetzgrundes, der eine tintenblau rotspurig, der andere lichtgrau, geben sich sil-houettenhaft karg mit strichig angedeuteten Gesichtszügen, der blaue mit dem ausgeprägten Hinterkopf unbewegt von halbrechts skeptisch blickend, der stiernackige graue schon halb weggewendet nach rechts unten, als dränge es ihn hinaus aus dieser fallenden Handlung, die der Skeptiker ihm erzählt hat – (fingierter) Diskurs des Bildners mit dem Dichter.