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Die Forellsche Erkrankung
Eine Erzählung von Hermann Kinder mit zwei Radierungen von Peter Marggraf
Gerd Kolter
„Die Forellsche
Erkrankung“ – klingt das nicht nach klinischem Krankheitsbild, im
Pschyrembel akribisch dokumentiert? – Nun – ganz so schlimm ist es nicht,
handelt es sich doch nur um unser aller Krankheit zum Tode, oder anders
gesagt: um das Altern. Insofern ist H. Kinders Name dafür so willkürlich wie
alltäglich: Die Frau des Erzählers muß berufsbedingt nach Köln ziehen, er
sucht und findet daraufhin eine kleinere Wohnung bei den Eltern eines
Freundes, die eben zufällig Forell heißen, und wird über ihr Sterben und die
verlassene Wohnung mehr und mehr mit seinem eigenen körperlichen Verfall
konfrontiert. Das ist auf den ersten Blick gewiß nichts, was den Leser aus
dem Sessel reißen würde, schon gar nicht aus den „wannengroßen Ledersesseln“
im Hause Forell. Was uns alle so selbstverständlich angeht, fällt uns nicht
auf – es sei denn, einer stößt uns drauf mit Nase und Augen, macht es
bedeutsam mit seinen, in diesem Falle literarischen Mitteln, hält uns fest
für einen Leseblick über 24 Seiten und läßt uns anschließend lange in den
Spiegel schauen. Kinders Schreibhand packt dabei nicht hart zu – im
Gegenteil: sacht, mit wohltuend leisen Andeutungen führt sie uns in beide
Wohnungen, in Blickwinkel, die sich trennen, sich annähern: „Alles käme weg“
– dieser Gedanke des Erzählers angesichts der leerstehenden Forellschen
Zimmer, er wiederholt sich wörtlich bei der Musterung seiner eigenen Wohnung
nach der Abreise seiner Frau. Die pessimistische Zukunft, noch gehalten vom
Konjunktiv – sie verlängert sich in konkrete Bilder des alternden Körpers,
der sich selbstständig macht, unkontrollierbar wird: „...unbekümmert
wucherten die Brauen und die Haare aus Nase und Ohren, und die Fuß- und
Fingerkrallen wuchsen über den Tod hinaus...“. Und immer mehr verfällt der
Erzähler der Wohnung, aus der er zunächst floh, und damit der „Forellschen
Erkrankung“. Nicht nur, daß er sich angewöhnt, täglich kurz dort zu
„wohnen“, er führt sich selbst drastisch vor Augen, daß er dem Leben immer
mehr hinterher hinkt, sei es am Arbeitsplatz, in der Stadt, durch die er
sich „mit leichter Angst“ bewegt, in der Begegnung mit Jüngeren, vor allem
mit Frauen, die ihn vielleicht als „lüsterne(n) alten Sabbersack
verdächtigen“ könnten. Dennoch gibt es auch Widerstände,
Selbstbehauptungen: Die Frau des Erzählers begreift die berufsbedingte
Trennung auch als Anfang, kauft für die neue Wohnung einen Schrank und legt
ihn voller Freude – auch dies wieder eine kleine, andeutende Geste – „mit
ganz allein ausgesuchtem Schrankpapier“ aus. Auch in der Begegnung der
beiden wächst aus der Erinnerung so etwas wie Zuversicht, tröstender Halt in
der Vertrautheit der Jahre: „...während ich ihre Hand streichelte, die
Knoten ihrer Fingerknochen, die sie als Zeichen ihres Alters entsetzten und
mir, da es sie schon immer gegeben hatte, Zeichen ihrer ewigen Jugend
waren“. Und über allem thront, in guter Novellen-Tradition, das
unerreichbare, im Grunde hier unten auch nicht zu ertragende Sehnsuchts-Blau
der Utopie – in Gestalt eines großen Landschaftsbildes in der Forellschen
Wohnung, auf das Kinder immer wieder in leitmotivischen Variationen
zurückkommt: der San Bernardino „mit weißer Kappe unter einem flirrend
blauen Himmel“, der Ort des großen Überblicks, den die Postkutsche auf einem
„abenteuerlich schmalen Saumweg“ ansteuert. Das Ehepaar Forell hat nicht
mehr von ihm heruntergeschaut, auch der Erzähler wird nicht wirklich
hinaufkommen, obwohl er ihr verstecktes Reisegeld findet. Aber das Bild
hängt noch, er schaut es lange an am Ende, und wir mit ihm, da darf er sich
ruhig auch „die Kanne" geben. Peter Marggraf hat die dichte Textur
dieser kleinen Novelle durch zentrierten Blocksatz und durch einen markanten
Schrift- typus verstärkt und zwei lose Original-Radierungen eingefaltet, die
beide in potenzierter Großeinstellung zwei männliche Gesichter zeigen. Es
gibt keinen Hintergrund, die Gesichtszüge füllen fast das ganze Bild aus,
der Rahmen schneidet den Hinterkopf ab. Dadurch ist der Blick des
Betrachters völlig auf die Physiognomie konzentriert und Marggraf genügen
wenige Linien und Schattierungen, um Prägungen, Kerben des jeweiligen
Gesichts festzuhalten.
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