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Fordernd, frisch und voller Achtsamkeit
Die Gedichte von Christine Kappe in der San Marco Handpresse

 

Hans Georg Bulla

Eine neue, eine frische poetische Stimme: Mit „Wie kann das sein” präsentiert die San Marco Handpresse das lyrische Debüt von Christine Kappe in einer bibliophilen Edition.

Christine Kappe, geboren 1970, hat mit Arbeiten für das Theater, mit Texten in Zeitschriften, Anthologien, im Internet, mit Lesungen und der erfolgreichen Teilnahme an Literaturwettbewerben bereits ein Publikum gefunden. Jetzt erscheint als Erstveröffentlichung eine Auswahl ihrer Gedichte aus den letzten Jahren. Und diese Sammlung zeigt, so schlank sie als Pressendruck zunächst erscheinen mag, daß Christine Kappe nicht nur über ein ausgeprägtes poetisches Sensorium verfügt, sondern zu einem eigenen, unkonventionellen Ton gefunden hat.
Denn so manche überraschende Zeile und ungewöhnliche Fügung ist auf diesen, von Peter Marggraf in eher klassischer, zurückhaltender Typographie gesetzten Seiten zu lesen:
„Die Dauer einer Stadt errechnet sich aus der Anzahl der erleuchteten Fenster um 23.30 …” heißt es da etwa gleich zu Beginn. „Und die Straßenlampen?“ wird etwas später gefragt: „Mit einer Farbe wie Tee ohne Milch / hängen sie zwischen den Reichbelaubten …“
Christine Kappe bewegt sich mit einem wachen Blick im Zentrum der Städte wie an deren Rändern („Stadtstrand“ heißt eines der Gedichte); aber ihre Beob-achtungen sind nicht beliebig wie die eines interesselosen Flaneurs, sie bleibt vielmehr inmitten der urbanen Szenerie („Fenster schauen in Fenster, wo geht es hinaus?“) aufmerksam für die Rest-Natur, für die vereinzelten Städtebewohner („Eine Frau zerteilt Pfützen mit dem Kinderwagen …“) und für das, was sich vor dem Fenster abspielt: „Die Kinder schreien auf der Straße. Wird jemand gequält? Von den Kindern? Oder spielen die nur?“ Das mag sich zunächst fast schnodderig lesen, und Sentimentalität ist gewißlich kein Merkmal dieser Texte, aber es kommt bei allen vermeintlichen Distanzierungsgesten doch aus einer die Schreibhaltung bestimmenden Sensibilität, Anteilnahme und Achtsamkeit.
Dies wird gerade auch in den Texten deutlich, in denen es um Erinnerungen oder Träume geht, in „Kindheit“ oder „Momente/Memos“ beispielsweise; aber auch in denen, die Landschaft oder Jahreszeiten thematisieren. In schöner Umkehrung heißt es dann etwa: „Die Blätter werden bald keine Bäume mehr haben / und das wird ein großer Verlust sein …“
Unkonventionell bringt Christine Kappe ihre poetischen Einfälle aufs Papier, geht locker mit Zeilenlänge und Zeilenfall um, spielt mit herkömmlichen Erwartungen an das Gedicht. Und findet auch, dies am Schluß dieser Sammlung, zum Prosagedicht, zu poetisch dichten Aufzeichnungen, die „Nicht Sommer genug“ oder „Idee des Juli“ heißen.
Peter Marggraf hat diesem Buch eine Radierung mit dem Titel „Zwischen den Stimmen“ beigegeben, mehrfarbig, von zwei Platten gedruckt; ein Vexierbild, das beim Blick darauf einmal einen Kopf, dann wieder eine umrißhafte Figur hervortreten läßt. Wie die Gedichte fordert es ein zweites, ein drittes Hinsehen und Lesen ein.

„Wie kann das sein“ – das ist ein bemerkenswertes und höchst erfreuliches Debüt. Und es ist ein solcherart gestaltetes Buch, über das sich nicht nur die Autorin freuen wird, sondern alle die, für die ein Buch immer auch ein optisch und haptisch erlebbares Objekt der Schwarzen Kunst ist.