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Dezembersonne
Zu Michael Hillens Lyrikalbum
"Wundbilder" mit einer Radierung von Peter Marggraf
Von Helwig
Brunner
Beginnen
wir mit einer Feststellung, die auf den ersten Blick wenig mit dem
Gegenstand dieser Buchbesprechung zu tun zu haben scheint: Kunst und
Literatur sowie die mit ihnen verbundenen Diskurse finden zunehmend im
Internet statt, sie bedienen sich der neuen Medien. Damit hat sich nicht nur
die Art der Materialisierung, sondern auch das Zeitmaß der Veröffentlichung
und Rezeption von Texten und Kunstwerken grundlegend geändert. Es herrscht
ein geschäftiges und eiliges, fast möchte man sagen: gehetztes Treiben, das
auch vor dem gedruckten Buch nicht Halt macht. In einer Saison gerade
rechtzeitig zur Buchmesse erschienen, soll das Buch in kürzester Zeit, zumal
wenn es sich um das Werk eines der »großen Namen« handelt, unter Einsatz
aller erdenklichen Methoden des Marketings und der Medienarbeit möglichst
viel an öffentlicher Beachtung und Verkaufserfolg auf sich ziehen, um meist
schon ein halbes Jahr später, mit Erscheinen des neuen Programms, wieder
weitgehend von der Bildfläche zu verschwinden.
In diesem Umfeld müssen in Kleinstauflagen
handgefertigte Bücher, auf ausgesuchten Papiersorten mit besonderen
optischen und haptischen Qualitäten gedruckt und mit Faden gebunden, wie
Exoten erscheinen. Die Kleinverlage, in denen diese Bücher hergestellt
werden, sind Widerstandsnester im herrschenden Kulturbetrieb, in ihrem
Fortbestand abhängig vom Engagement enthusiastischer Einzelkämpfer, die
meist ihrerseits Künstler sind oder, etwa als Galeristen, der Kunst
nahestehen. Beispiele dafür sind die Edition Thurnhof und die Edition
Thanhäuser in Österreich, die Berliner Corvinus Presse und nicht zuletzt die
San Marco Handpresse (Bordenau/Venezia). Unbeirrt setzen sie den oben
beschriebenen kulturbetrieblichen Trends die unleugbare, virtuell nicht
reproduzierbare Schönheit bibliophiler Buchausgaben entgegen, verbunden mit
einem entschleunigten Prozess der Entstehung des Buches und einer
begrenzten, jedoch auf Nachhaltigkeit angelegten Verbreitung.
Hält man als Rezensent Michael Hillens
großformatiges Lyrikalbum »Wundbilder« samt der beigefügten Radierung von
Peter Marggraf in Händen, ist man zunächst von jener Schönheit beeindruckt,
der die lange handwerkliche Erfahrung und der ästhetische Feinsinn des
Grafikers, Bildhauers und Büchermachers Marggraf innewohnt. Dann freilich
stellt sich die unvermeidliche Frage nach dem Verhältnis von
Erscheinungsform und Inhalt: Korrespondiert die literarische und
künstlerische Qualität überhaupt mit der aufwendigen Herstellung? Oder haben
wir es mit einer Mogelpackung zu tun, die mit hochwertigem Äußeren über
inhaltliche Mängel hinwegzutäuschen versucht? Rasch kann diesbezüglich
vollständige Entwarnung gegeben werden, denn die sechzehn Gedichte bilden
gemeinsam mit der Radierung ein stimmiges Ganzes, das in seinen
weitreichenden künstlerischen Aussagen die bibliophile Ausstattung mehr als
plausibel macht. Hier werden jene letzten Fragen an das Leben gestellt, die
sich nur mit tiefer und wertschätzender Einsicht in die Conditio humana
aussprechen und angemessen besprechen lassen. Nicht zuletzt als Ausdruck
eben dieser Wertschätzung ist die schöne Ausführung des Buches legitimiert.
Hillens Gedichte bilden die Wunden ab, die das
Alter, die Todesnähe und der Verlust naher Menschen mit den Jahren in unser
aller Leben schlagen. Die Verse erzählen in großer Direktheit, luzide und
unverrätselt, sie formulieren behutsam und pathosfrei Erinnerung und
Gedenken. Indem die Gedichte Jahrzehnte und ganze Lebensalter überbrücken,
entziehen sie sich der schnellebigen literarischen Gegenwart, von der
eingangs die Rede war, und erlangen gerade dadurch ein enormes Maß an
Gegenwärtigkeit. Das Gedicht »sichere anlage« etwa berichtet von den
persönlichen »wertpapieren« einer zweifellos betagten Dame und listet auf:
»das handgeschriebene sonett / eines nahen verwandten; / der einst
versiegelte brief / aus einer frühen liebe / die nicht dauern durfte / doch
nie in ihr verging; / und eine feldpostkarte, sütterlinschrift […]«, mit der
es eine traurige Bewandtnis hat.
Immer wieder ist der Text durchwoben von einer
feinen wie auch bitteren Ironie, die bei allem Gewicht des Gesagten für eine
Leichtigkeit sorgt, für eine Art paradoxer Souveränität, die sich an ihrer
eigenen Unmöglichkeit erhebt. So wird im Gedicht »dritte woche« von einem
geduldigen Zuhörer erzählt, der offensichtlich voller Anteilnahme den
Lebensgeschichten seiner fast täglich sich einstellenden Besucherin lauscht
(»gestützt auf ihren rollator / erzählt sie aus ihrem leben, / nimmt ihn mit
zum begräbnis ihres mannes / und des einzigen bruders / vor vielen jahren«),
bis zuletzt ihre Besuche ausbleiben und eine vorher geäußerte »gewißheit
auch die dinge / nähmen unsere abwesenheit wahr« in humorvoller Zuspitzung
belegt sowie die wahre Identität des Zuhörers preisgegeben wird.
Das Gedicht »vielleicht einmal der tag«, der
abschließende und zugleich längste Text dieser Sammlung, liest sich in
gewisser Weise wie ein Resümee. Der diskrete Lichtschein der winterlichen
Sonne fällt ein und leuchtet Momente des kleinen Glücks aus: »wie noch die
dezembersonne wege findet / eine hand zu wärmen, den rücken / des
aufgeschlagenen buchs, / wie sie einen schein wirft / auf das saubere wasser
das aus der leitung fließt, / auf das unbeschossne, friedlich daliegende
bett […]«. Sowohl im Rückblick auf die Kriegsvergangenheit in unseren
Breiten als auch im aktuellen Wissen um Krieg und Zerstörung in anderen
Weltgegenden müssen uns die relative Sicherheit und der Komfort unseres
Lebens alles eher als selbstverständlich und durchaus beglückend erscheinen.
Dennoch fällt es schwer, dieses Glück nachhaltig zu erleben, sodaß der
Dichter abschließend befürchtet, daß wir zu spät erst – »vielleicht einmal
der tag, ein tag des morphiums vielleicht« – manch sorglosen Umstand
genügend zu würdigen wissen.
Peter Marggrafs beigefügte Radierung »Solchen
Schmerz kann die Nacht nicht fortschlafen« (eine Zeile aus dem Gedicht »sie
sitzt ein« aufgreifend) faßt die Kernaussagen der Gedichte Hillens in der
expressiven Darstellung einer einzigen mehrdeutigen Geste zusammen. Mag
sein, die in Rückenansicht gezeigte nackte menschliche Figur, ganz in Grau
gehalten und vielleicht bereits dem Schattenreich angehörig, wendet den Kopf
für einen letzten Blick zurück und hebt ihre Hand zum Gruß – oder aber im
Versuch, sich des allzu Schmerzhaften zu erwehren, das über sie
hereinbricht.
Helwig Brunner,
geboren 1967 in Istanbul, lebt in Graz. Studienabschlüsse der Musik und
Biologie. Autor, Herausgeber der Buchreihe "keiper lyrik" in der Grazer
Edition Keiper, Mitherausgeber der Literaturzeitschrift "Lichtungen".
Veröffentlichte bisher unter anderem zehn Gedichtbände, zuletzt "Denkmal für
Schnee" (Berger Verlag, Horn 2015); die essayistische Prosa "Journal der
Bilder und Einbildungen" erscheint im Frühjahr 2017 im Literaturverlag
Droschl, Graz.
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