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A melancholy of
mine own … Über die „November-Notizen“ von Hans Georg Bulla
"Die Sehnsucht nach
Ländern, die wir nicht kennen, ist vielleicht nur die Erinnerung an
Landschaften, durch
die wir in einem früheren Leben gereist sind." Jules Renard, 20. Juni 1887
Eva Taylor
Hans Georg Bulla
veröffentlicht in der San Marco Handpresse 2009 Prosa-Notate – sie heißen
„November-Notizen“ und sind „Ins schwarze Heft“ geschrieben. Wird es
aufgeschlagen, findet man neben den eigenen Aufzeichnungen auch Zitate. Es
sind vom Autor handschriftlich wiedergegebene Sätze, die der französische
Schriftsteller Jules Renard (1864 – 1910, bekannt als Autor von Tagebüchern
und Aphorismen) jeweils an einem 20. Juni notiert hat. Die Handschrift, die
Kleinschreibung verweisen auf Nähe, und tatsächlich fügen sich diese Zitate
nahezu bruchlos in den skeptischen Ton der Bulla’schen Sätze. Vor allem das
Datum der ausgewählten Stellen, der 20.6., ist nicht zufällig. Die
„November-Notizen“ erschienen zum 60. Geburtstag von Hans Georg Bulla.
Über allem liegt Melancholie, manchmal die schwere, manchmal die
leichtere, die stellenweise an Shakespeare erinnert: „(…) it is a melancholy
of mine own, compounded of many simples, extracted from many objects, and,
indeed, the sundry contemplation of my travels; in which my often rumination
wraps me in a most humorous sadness“ (Jaques in: „As you like it“, 4. Akt,
1. Szene).
Bullas Novembernotizen sind kein intimes Journal. Sie
berichten von der Herbstreise eines Ichs. Subjektivität kommt also vor,
vorsichtig sollten wir aber sein, dieses facettenreiche Ich mit dem Autor zu
identifizieren. Sind es nicht vielmehr verschiedene Stimmen, Identitäten,
Masken? Oft werden blitzlichtartig Gegenwartsmomente abgebildet,
kommentarlos, ohne Personalpronomen: „Morgens um Viertel nach sechs. Die
Amsel vor der Tür des Bäckerladens, hin und her auf den Platten, fliegt
nicht auf.“
Neben den Bildern eines Ichs als Fotograf, gibt es ein
anderes, das über Sprache nachdenkt: „Todunglücklich: Ein Wort, das
gestrichen werden müßte. Lebensunglücklich müßte es heißen. Das stünde im
Lexikon auch weiter vorn.“ Da ist noch ein anderer, der
„Durch-den-Zug-Geher“: Er hört Leute sprechen, notiert. Obwohl sie dasselbe
tun wie er, scheinen sie Figuren aus einem anderen Stück, Abziehbilder der
Wirklichkeit, in ihrer Vorhersehbarkeit sogar grotesk, der
Durch-den-Zug-Geher enthält sich des Kommentars. „Der Durch-den-Zug-Geher:
S-Bahn-Lektüren, Zeitungen werden ungern gesehen, bevorzugt werden
Paperbacks, umfangreich, aber leicht in der Hand. Kapitel von zwanzig,
dreißig Minuten Länge. Auf der Rückfahrt eröffnet Helen endlich ihre neue
Galerie in London.“ An anderen Stellen scheint ein lyrisches Ich zu
sprechen, vor allem in den erinnernden Sätzen, in denen der Autor manchmal
wie in seinen Gedichten gegensätzliche Momente zusammenstellt.
Der
November ist die Zeit der Erinnerungen: Allerheiligen, Allerseelen. Wie im
Halbdunkeln tauchen sie auf: das Ich als Kind, die Eltern, der Freund, die
Schwester des Freunds, der Pfarrer. Es ist eine Herbstreise und noch keine
Winterreise, aber es wird doch langsam dunkler, es herrscht die Gewißheit,
daß die Tage kürzer und weniger werden, es insgesamt kälter wird. Der
Schreibende bereitet sich von Anfang an vor: „Es ist kein gutes
Wintergeschäft, mit Meinungen zu handeln. Die heizen nicht die Wohnung.“ In
dieser Novemberstimmung, in der die Haut dünner zu werden scheint, werden
die Sinne, auch das Ohr, für Töne und Stille geöffnet: „Nachtradio. Welche
Stimmen aus dem Gerät, welche im eigenen Kopf. Bleibt was zu träumen.“
Bei solchen kurzen Aufzeichnungen stellt sich die Frage der inhaltlichen
und formalen Ordnung. Die Notate sind knapp, meistens nicht mehr als zwei,
maximal zehn Sätze lang. Sie entwickeln sich wellenartig, die längeren
Stücke erst nach dem Anlauf kürzerer Bewegungen. Doch gibt es keine
stringente Entwicklung von A nach B. Was zählt, ist nicht das einzelne Teil,
sondern die Gesamtheit der Elemente. Man könnte das Buch auf jeder Seite
aufschlagen und sich einlesen. Das Präsens herrscht vor, in den längeren
erinnernden Stücken steht folgerichtig das Präteritum. Es geht auf den
ersten Blick um Alltag, um die Brüchigkeit des Alltags, um das
Zusammenfließen von verschiedenen Sinneseindrücken und Wahrnehmungsebenen.
Dadurch entsteht ein illusionsloser, zeitkritischer Blick auf Gegenwart. In
der sprachlichen Dichte der Notate wird das, was verfliegt, gefangen, aber
ohne es seiner Flüchtigkeit zu berauben. Hugo Dittberner spricht (in
seinem Geburtstagsartikel auf Hans Georg Bulla in „Ort der Augen“, 2/2009)
von Bullas „Impuls des Innehaltens“, von einer „Neuerfindung der Ökonomie“
auch der Wörter – und beides ist in diesen Notaten wieder zu finden. Sie
lesen sich stellenweise wie ein Stolpern im Alltag, das zur Reflektion, zur
Erinnerung führt, aber nie ausschweift, eher sorgsam verbirgt als enthüllt.
Eins der Wörter, das am häufigsten vorkommt, ist „Schmerz“: „Schmerz läßt
sich leicht in den Plural setzen, Glück nicht.“ Es ist wieder diese
Aufmerksamkeit für Sprache, die ihn über alte und neue Wörter (und
Lebensformen?) stolpern läßt: „Der Tod ist eine Tödin“ notiert Bulla.
Das dark heart dieser Notate schlägt gegen Ende der Sammlung: „Wirf ein
Tuch über mich, das Tuch, das dir zur Hand ist. Meine Augen sind schwer, es
dämmert. Es reicht, wenn du mein Gesicht zudeckst, mir ist nicht kalt.“ Ein
Tuch, wie ein Schweißtuch, denn der Körper lebt ja, nur der Kopf scheint zu
schwer, die Augen müde, sehen in der Dämmerung nicht mehr recht. Lieber
nicht mehr sehen müssen, den Kopf ausschalten. Was für eine Müdigkeit muß
das sein, wenn ein lyrisches „Du“ bei etwas um Hilfe gebeten wird, was doch
nur eine Handbewegung erfordert. Hier liegt jemand, hat nicht mehr die
Kraft, sich zu helfen und zu bewegen. Es ist dies eins der wenigen Notate,
in denen ein lyrisches Du direkt angesprochen wird. Im anderen Rettung zu
finden, diese Hoffnung wird bei der Lektüre immer wieder enttäuscht („Ehen
brechen auseinander wie notlandende Flugzeuge.“). Der graue Umschlag
der Novembernotizen kann nicht darüber hinweg täuschen, daß im Text
Synästhesien liegen, wir sehen Rot, Weiß und immer wieder Schwarz in der
Schrift durchleuchten. Es sind Lichtwahrnehmungen, Wortwahrnehmungen. Viele
der Farben tauchen implizit in den Notaten auf: das Schwarz der Amsel, das
Rot der Herbstblätter, das Weiß der Weihnacht. Was hat Martin Walser
(„Meßmers Gedanken“) notiert? „Mit den Fäusten in den Augen hab ich diesen
Tag verbracht. Es hat schwarz und rot geregnet in meiner Lichtlosigkeit“.
Nicht alles, was Hans Georg Bulla schreibt, ist bitter. Da gibt es
Momente eines gewissen Humors, auch wenn es vielleicht Galgenhumor ist,
einen leichteren melancholischen Blick auf die kleinen Dinge, von dem schon
Shakespeare gesprochen hat. Und vielleicht ist es kein Zufall, daß dies bei
den dann und wann eingestreuten englischen Zitaten geschieht. Es sind
Filmtitel („They shoot horses...“, Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß),
Anspielungen auf Lieder („Do not ask me, love, to linger, when you know not
what to say“, wohl aus dem Folk Song „When the roses bloom again”) oder
„This machine kills”, vielleicht eine Anspielung auf Woody Guthrie, oder
aber Sentenzen, die auf Bullas englische Leseerfahrungen verweisen: „Deeds,
not words (shall speak me)”, ein Satz des englischen Dramatikers John
Fletcher (aber auch der englischen Suffragetten), und so weiter. Es sind
Splitter einer anderen Lektüregeschichte Hans Georg Bullas.
In der
Buchankündigung der San Marco Presse ist zu lesen, daß Bullas Prosa-Notate
„sich in die Reihe der Aufzeichnungen von Autoren wie Hans Bender,
Wolfdietrich Schnurre oder Martin Walser (Meßmers Gedanken) einstellen
lassen und (...) sie auf eine eigene Art fortsetzen“. Diese literarische
Ahnengalerie ließe sich fortsetzen, man denke an die von Lichtenberg als
Arbeitshefte konzipierten „Sudelbücher“ oder an Hebbels „Tagebücher“, die,
zusammen mit denen von Jules Renard, auch für Hans Bender, den Kenner des
Genres, maßgeblich waren. Gemeinsam ist Renard, Bender und Bulla zum
Beispiel auch das Talent für knapp eingestreute Tierbilder.
Aufzeichnungen und Notate entstehen bei den meisten genannten Autoren wie
„ex negativo“, es geht nicht um große Formen, die Form bleibt insgesamt eher
unbestimmt. Es geht auch inhaltlich nicht um nur eine Sache, vielmehr sind
es kurze, manchmal kürzeste Texte, die wie mit der linken Hand geschrieben
worden sind. Schnurres Titel ist emblematisch: „Der Schattenfotograf“. Seine
Maxime: „Die Gestorbenen sammeln. Die Lebenden lieben. Aufsässig wider den
eigenen Schatten.“
Im November 2008 lief die Welt in eine
wirtschaftliche und politische Krise. Darüber direkt kein Wort in den
November-Notizen. Wir fragen nicht, welche Lichtlosigkeit Hans Georg Bulla
durchquert hat. Wir sind froh, daß er ihr Wort und Form gegeben hat.
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