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Rüdiger Görner
Der letzte
Mönch von San Michele
Eine
venezianische Fantasie
Venezianische
Frauen
Fotoarbeiten
von Peter Marggraf
Im Dunkel ruht alles.
Bevor das Leben erwacht. Die erste Seite der hebräischen Bibel benennt die
Urfinsternis. Kehren dorthin nicht die zurück, deren Leben endet? Ein
merkwürdiger Kontrast entsteht, wenn sie auf einer Insel gebettet werden.
Wie es in Venedig geschieht. Die Insel kann Einsamkeit, ja Verlassenheit
verkörpern, doch steht sie zuerst und vor allem für einen reizvollen
Zusammenklang der Elemente Erde und Wasser, von Festem und Flüssigem. Kein
Unort ist sie und soll doch die Schatten bergen? Rüdiger Görners Gedicht
betritt in einem Gestus des
Erstaunens die Insel. Die erwartbare Reglosigkeit stellt sich nicht ein,
„Taubenschwärme kreisten über San Michele“. Hier, wo Ruhe den
Grundton formt, findet das lyrische Ich eine irritierende Vielzahl kaum
deutbarer Bewegungen und Veränderungen. Dieses elementare Verstört-Sein
grundiert das Sprachkunstwerk. Etwas bewegt sich an gegen die im Stein
versiegelte Endgültigkeit des Unbewegbaren. Die Zeit der Toten ist
aufgebraucht. Hier aber, auf ihrer Insel, werden Stunden sichtbar im Wandel
der Farben:
Türkis leuchtete der
Abend;
Rot, dann Violett,
dann dunkles Blau
Entquoll den
Urnenwänden,
Als bluteten sie …“
Die Gegenläufigkeit
der Zeit verleiht den Fotoarbeiten von Peter Marggraf eine unwirkliche
Wirklichkeit, eine Ästhetik des Erwachens aus einem Schlaf, der als
endgültig galt. Das Gedenken der Verstorbenen bewahren auf der
Friedhofsinsel Portraits, gefertigt als Platten aus Porzellan und an den
Grabsteinen befestigt. Marggraf sucht und findet sie in einem über zehn
Jahre währenden Schaffensprozess. Er nimmt den Porträts nicht die Spuren von
einhundert Jahren seit ihrer Anbringung, er dokumentiert und restauriert
nicht. Stattdessen läßt er die Patina, das Verbleichen, Abblassen, die
Sprünge und Risse in einen Dialog treten mit der memorierten Person. Manche
von ihnen versinken in Unkenntlichkeit, als gingen sie unter in einem tiefen
Wasser. Diese Wehrlosigkeit anerkennt den Tod, ohne ihm eine Totalität
zuzueignen. Ins Bild finden Momentaufnahmen von Veränderungen. Sind sie Teil
eines Vergehens? Oder tragen die Bildflächen erste Spuren des Windes an
sich, der in Hesekiels Vision über den Arealen der Toten aufkommt und die
Gebeine neu verfugen wird?
Sieht der Fotokünstler
auf die Gräber selbst, folgt der Blick des Schriftstellers der Gestalt eines
einzelnen Mönchs. Sein Habitus verortet ihn als möglichen Seelenwächter
angemessen, zugleich ist er fragwürdig, evoziert Frage um Frage:
„Wer bist du, Mönch?
Wer warst du?
Wer willst du sein?“
Für die Insel sind
Antworten nicht wirklich wichtig. Gerade der Wortlose findet und fugt sich
hier ein. Er wird zum „Mönch der Toten“. Virtuos gelingt es dem
Schriftsteller, die Subtraktion lyrischen Sprechens mit dem Narrativ des
Erzählers zu verweben. Er schafft Handlungsinseln in einem Gewässer des
unaufhörlich Bewegten. Die beiden Protagonisten - die Frau und der Mann -
durchlaufen keine erzählbare Entwicklung. Die markanten Momente ihrer
Begegnungen sind aber unauslöschlich. Ihre Trennung ist Teil eines
Wasserspiels, in dem die Zeit nebensächlich wird. Das macht den Mönch bereit
für die Toten und die Geliebte für ihren eigenen Tod.
Görner erkennt die
Zeichen der Zeit. Die Spätmoderne erstreckt sich als eine riesige Bühne.
Überzeugungen und Haltungen werden auf ihr gewechselt wie Kostüme. Das
Beliebige korrespondiert mit der Erosion des vermeintlich Starken. So ist es
kein Zufall, sondern eine bewußte Setzung, diesen Mönch als den „letzten“ zu
benennen. Die Kirche, deren Kleidung er trägt, und mehr noch, deren Glaube
er verkörpern will, war die Hervorbringerin subtiler Strukturen bis hin zu
Begräbnisriten. Längst ist sie nicht mehr tonangebend. Das Langgedicht
bezeugt ein Unwetter. Gläser von Murano zerspringen darin und die
vermeintlichen Verankerungen einer Geschichte des Heils. Lange schon geht es
nicht mehr um das Primat einer Konfession. Der biblische Glaube selbst ist
Ziel eines Orkans:
Kamen, uns zu
missionieren, sie tanzten
Um Totems und priesen
die Götter
Und lachten über den
unseren, einen.
Sie zeigten auf mich
und lachten,
Und es schwanden die
Kreuze
Auf den Gräbern; kein
Donner
Kam mir zu Hilfe; und
es durchzuckte
Ein Beben San Michele,
und vollends
Zerbrachen die
Glocken.“
In sieben Strophen
entfaltet sich das Gedicht, dem Band auch in einer Übertragung ins
Italienische durch Simona Leonardi und Eva-Maria Thüne beigegeben. Es maßt
sich nicht an, eine Nähe zu den Bestatteten schaffen zu können. Sie sind die
stummen Passanten, verstreut in den endlosen Reihen eines Welttheaters.
Zeugen werden sie einer Flamme, die zwei Menschen entzündet. Ob sie etwas
von deren Wärme spüren, niemand kann es wissen. Auch der Autor nicht. Er
greift die uralte Behauptung des Hohenliedes auf, Liebe sei so stark wie der
Tod. Sie weckt die Klänge und Farben auf der fahlen Insel. Oder heißt es
nicht sogar, die Liebe sei stärker?
Wortbilder und
Bildworte durchdringen sich in dem schmalen Band zu einer eigentümlich
intensiven Ästhetik. Sie weitet die Wahrnehmung über das Künstlerische zu
einem Humanum. Lesend und betrachtend gilt es immer wieder, eine unsichtbare
Schwelle zu überschreiten. Diese Kunst betritt Randzonen des Todes. Sie
überlässt die wehrlos Gewordenen nicht dem immer währenden Schweigen und
einem fortschreitenden Verblassen. Sie sind da, immer noch, immer neu, immer
anders. Ob es im Sinne Thornton Wilders eine Brücke gibt zwischen dem Land
der Lebenden und der Toten, dieses Kunstwerk stellt zumindest die Frage. Das
ist viel.
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