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Ich sehe was, was Du nicht siehst …

Lyrik von Christiane Schulz im Dialog mit Zeichnungen von Peter Marggraf

 

   
     
 
     
Abbildung oben: Christiane Schulz und Peter Marggraf in der Galerie Bernau bei Berlin (Foto: Wolfgang Schulz)
 
Abbildung unten links: Peter Marggraf · Ecce homo II · 1999 · 60 x 80 cm cm · Graphit auf Papier
Abbildung unten rechts: Peter Marggraf · Ecce homo I · 1999 · 60 x 80 cm cm · Graphit auf Papier

 

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Thomas Kumlehn

Es gibt verschiedene Wege, sich den Texten von Christiane Schulz zu nähern. Begegnet bin ich erstmals einem ihrer Gedichte im Nachlaß von Hubert Globisch (1914 – 2004). Das war im Jahr 2006. Es war ein handgeschriebenes Odergedicht in einem Brief aus dem Jahr 1999. Die Gründe dafür: Sie wußte von seinem 26 Bilder umfassenden Werkzyklus zur Oderflut des Jahres 1997, sie schätzte den Potsdamer Künstler und seine Malerei, sie hatte im selben Jahr ein Bild von der Neustädter Havelbucht von ihm erworben. Ich war neugierig auf das Bild und darauf, die Potsdamer Lyrikerin kennenzulernen. In ihrer Wohnung entdeckte ich neben dem Bild von Hubert Globisch weitere Kunstwerke Potsdamer Provenienz, die sich wohl dosiert und in gutem Licht plaziert zeigten. Astrid Germo, Stephan Velten, Barbara Raetsch. KünstlerInnen, deren Bilder mit nuancenreicher Farbgebung und harten Konturen spannungsvoll aufgeladen sind.
Anders als in ihrer Wohnung spielt die bildende Kunst in den Gedichten von Christiane Schulz eine eher marginale Rolle. Obzwar die Gedichte bildhaft sind und sich ihre Texte haptisch lesen lassen. Die behutsame, ja fast scheu zu nennende Wortwahl gleicht dem Skizzieren einer Malerin. Nur kein Wort, kein Wortgewicht zuviel. Ausbalanciert, bisweilen retardierend, präzise und fragil. Jedes ihrer Textgebilde ein Flechtwerk und dennoch mit solider Statik. „Baumgrasleise“ (Richard Pietraß), die Rhythmen und Klangwirkungen der Worte. Herben Glissandi einer Oboe nicht unähnlich, die angeweht kommen und wieder abdrehen. Die Zeilen fallen nicht wie Maschen, sie bilden Terrassen einer Hangbepflanzung mit Worten. Auf manchem Schritt und Tritt und mit Vorliebe erwandert sie ihre Worte an der Küste oder in vertrauten (märkischen) Landschaften.
Aquarell // Mischfarbe Unfarbe / lagert im Hügelland / Restwinter / zwischen Harsch und Schmelze / verwischt den Horizont / das Zeitgefühl / den Eiszapfen / schmeckt die Zunge / das Verbot / (…)
2006, als wir uns das erste Mal begegneten, war gerade „Mondweiß am Revers“ erschienen. Ein Künstlerbuch, herausgegeben von Hans Georg Bulla für die San Marco Handpresse. Christiane Schulz verhehlte die Freude über ihr drittes Buch nicht, die ich nachvollziehen konnte. Peter Marggraf, Inhaber der San Marco Handpresse, alternierend in Neustadt und in Venedig arbeitend und lebend, hatte das Buch aufwendig und liebevoll gedruckt und eine Linolätzung beigefügt. Das Bild „Torso unter der dünnen Haut“ thematisiert auf den ersten Blick das Gefühl der Unvollkommenheit. Ein menschlicher Torso, schemenhaft in einer Draufsicht. Labyrinthisch umfließen die fehlenden anatomischen Glieder den Körper. Der Linolschnitt erzeugte weiche Formen, die mit dem silbrig-blauen Schimmer, der durch die Ätzung hervorgerufen wurde, korrespondieren. Das Blatt von Peter Marggraf beschließt das Buch. Dem Gedicht „Landsicht“, so mein Eindruck, näherte sich der Graphiker mit seinem Blatt besonders nachhaltig an. Der anthropomorphe Charakter des von der Lyrikerin liedhaft beschriebenen Lands hat ihn unzweifelhaft für die Wahl der Arbeit auf Papier inspiriert.
Landsicht // Eiswind fährt / dem Land unter die Haut / dem flachen Land unter die dünne Haut / der Eiswind mit dünnen Fingern / fährt flach unter die Haut / und hebt sie ab / die Haut von dem Land / (…)
Gedicht und Bild sind in der erwähnten Publikation eine Liaison eingegangen. Es kündigt sich jedoch schon innerhalb dieser ersten Beziehung etwas Neues an. Christiane Schulz erwarb ein Jahr später (2007) die im gleichen Jahr gegossene Bronze „Weibliche Figur, stehend“ von Peter Marggraf. Der Bronze ging eine Wachsfigur voraus, von der die Gußform abgenommen wurde. Weich und geschmeidig wie Wachs wirkt auch der Bronzeguß. Die Lust am Betrachten und Umgehen einer Skulptur ist schon in ihrem Gedichtband „Der Himmel der Bleigießer“ zu finden. Christiane Schulz erschließt darin die Arbeit eines Bildhauers, die des kürzlich verstorbenen Werner Stötzer (1931 – 2010), adjektivierte gar seinen Namen, den sie seinem Werk als unverkennbare Eigenschaft zuschrieb.
Stötzerhaft // Den Stein behauen / ihn sprechen lassen vom Knien / ihm eine Hüfte ausladen / eine welke Brust falten / eine Kohlespur Handschrift anlegen / (…)
Ein später entstandener Text für die Bronze von Peter Marggraf imaginiert die konkrete Entstehungsgeschichte einer Skulptur. Einfühlend sucht sie mit Worten die Berührung, betastet deren Oberflächen, um das Herstellen freizulegen. Ihr Text, im Herbst 2010 für eine Ausstellung in der Galerie Bernau bei Berlin handgeschrieben auf Acrylglas von Peter Marggraf, warf zarte Schatten auf die dahinter liegende Wand. Schatten, die ich gedanklich auf die weiblich Stehende projizieren konnte. In diesem Text rücken die Worte der Autorin der Bronze auf den Leib, als seien die Worte Abreibungen (Frottagen) der Skulptur.
Weiblich, stehend // (…) / erst auseinander gebrochen / das weiche Wachs der Ansatz / eine Form zu finden kittend und / knetend soll geheilt werden / gesunden was angegriffen war / geschichtet geglättet kuriert / behutsam von langer Hand / aufrichtig gerichtet aufgerichtet / mit Haut versehen rundum / eine Bronzehaut formfest stehend / aufrecht stehend endgültig und / immer mit Schwung die Hüfte / die Taille zerbrechlich die Augen / einwärts gewandt der Mund eine Andeutung / fest in der Bronze für immer / rissig verletzbar endgültig wachsweich
Die Gabe, dem sichtbaren Kunstwerk auf die Spur zu kommen, mit dem Text ein oszillierendes Verhältnis zum Bild zu erzeugen, gelingt Christiane Schulz wiederum im Februar 2010. In Korrespondenz tretend mit Peter Marggraf, erhielt sie von ihm postwendend zwei Graphit-Zeichnungen aus dem Jahr 1999. In beiden Blättern widmete sich der Zeichner einem auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen. Die fließende, wellige Umrißzeichnung betont das kreatürliche, existentielle als Schmerzerfahrung und Dialogsuche (mit Gott). Die figurative Bildästhetik verleiht dem Mann („Ecce Home“) einen alttestamentarischen Charakter, der Leid erduldet, um sich wieder aufrichten zu können. Diese beiden Phasen sind auch Gegenstand der Reflexion von Christiane Schulz geworden.
Ecce Homo I // Als wäre er im Begriff / auf uns zu durch das Papier / zu kommen, aber wartet noch / unentschlossen, ein Schemen / bloß. Das Antlitz / uns zugewandt. Die Stirn, / das Wollen, eine Kontur. / Der Leib, angedeutet, wäre erst / herauszuschneiden durch uns, / kann weder vor noch zurück.
Ecce Homo II // Wir versuchen, / den Spuren zu folgen: / Augenhöhle, Stirngräben. Und / an den Halsmuskelsehnen fallen / wir. Beginnen von vorn: / Die Mundkanten entlang. / Zu den hörwunden Ohren hin / verlieren wir den Halt. An ihm / entlang zu laufen, reicht nicht. / Wir müssen mit ihm / schweigen können, daß der Körper / sich herauskrümmt.
Auch die Zeichnungen „Ecce Homo“ sind auf diese Weise Wort für Wort erschaut und die weichen, breiten Linien des Graphitstifts abgelesen. Mit den Ätzungen der beiden Texte auf Radierplatten, untauglich für den Druck zwar, weil dafür die Spiegelschrift notwendig gewesen wäre, holte sich Peter Marggraf die Reflexionen der Autorin in seine Werkstatt. Dort, wo er auf Texte graphisch reagiert, animierte er die Beschreibungen auf ihm vertrauten Material, um die Präsenz der Texte räumlich zu stärken und die Lesegeschwindigkeit zu verringern. Für die erwähnte Bernauer Ausstellung „Im Wort stehen – zum Bild“ wurde die tatsächliche Korrespondenz zwischen Peter Marggraf und Christiane Schulz zur Voraussetzung einer gleichwertig präsentierten Beteiligung beider, deren prononcierte Kreuzsymbolik das Publikum überraschte und überzeugte. Die Tatsache, daß diese Ausstellung nicht von einer Publikation begleitet werden konnte, ist zwar bedauerlich, sollte jedoch die Lyrikerin und den Graphiker ermuntern, auf ein weiteres Druckwerk zuzusteuern.